Mord statt Heilbehandlung

Bei Gedenkveranstaltung für Opfer des Nationalsozialismus wird auch Situation behinderter Kinder thematisiert

Von Stefanie Widmann

ALZEYWolfgangs Geburt im Jahr 1935 war sehr schwer gewesen, er konnte nicht sprechen, sitzen und laufen. Der kleine Alzeyer war trotz seiner Behinderung ein fröhliches und sehr geliebtes Kind. Als er sieben Jahre alt war, forderte das Gesundheitsamt die Eltern auf, ihn zur Behandlung in der neuen Kinderfachabteilung auf dem Eichberg bei Eltville aufnehmen zu lassen, wo man mit modernsten Methoden arbeite. Schweren Herzens brachten die Eltern ihren Sohn am 29. November 1942 dorthin. Wolfgang starb dort drei Wochen später, angeblich an Herzschwäche und Gehirntrauma. Tatsächlich hatte ihn der Leiter der Kinderfachabteilung und SS-Untersturmführer Dr. Walter Schmidt nach Berlin an den für die Tötung von Kindern zuständigen Reichsausschuss gemeldet. Am 18. Dezember wurde Wolfgang mit der Überdosis eines Medikaments eingeschläfert.

Es ist eine Lebensgeschichte, die jeden, der sie hört, tief betroffen machen muss. Bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus in der Rheinhessen-Fachklinik (RFK) am Montag lasen Laura Brosinsky, Sebastian Kneipp, Milene Krämer und Yasmin Rathgeber, alles Schüler der Krankenpflegeschule, insgesamt drei solcher Biografien vor, Renate Rosenau von der Arbeitsgruppe Psychiatrie im Nationalsozialismus in Alzey / Rheinhessen führte in das Thema ein und zeigte, dass es keine Einzelfälle waren. Das Schicksal von Wolfgang teilten Kinder aus Alzey, Heimersheim, Gau-Odernheim, Wörrstadt, über 50 Kinder aus Rheinhessen.

Die allgemeine Schreckensbilanz des Dritten Reiches für Alzey ist viel umfangreicher, sie lautet: Über 550 der Alzeyer Patienten waren in Hadamar und in anderen Tötungsanstalten ermordet worden. In der damaligen Heil- und Pflegeanstalt starben 60 Zwangsarbeiter. In der Stadt kamen 104 Personen der Zivilbevölkerung bei Bombardierungen oder durch andere Kriegsfolgen um, 430 Alzeyer ließen als Soldaten ihr Leben beziehungsweise gelten als vermisst. „Heute gehören Vorgänge wie Ausgrenzung, Abschiebung, Verächtlichmachung, Mobbing, körperliche Angriffe bis hin zur Ermordung wieder zu unserem Alltag, und aus den USA kommt der neue Begriff Extralegalität, eine erschreckende Entwicklung“, sagte Rosenau und forderte: „Alzeyer, Bürger, Stadt und Kreis, bezieht Position.“

„Der Schmerz ist immer noch da. Wir können nichts ungeschehen machen, aber wir können denken, können lernen“, sagte Diakon Stefan Brux, der mit seinem evangelischen Kollegen Dr. Gerald Schwalbach durch den ökumenischen Gottesdienst führte. Beide forderten die Menschen auf, hin- und nicht wegzuschauen, zu schreien und nicht zu schweigen, wenn es heute wieder Entwicklungen gebe, die fatal an die damaligen erinnern würden, und Brux betete zu Gott: „Wir bekennen, dass wir Dich bitten, wo Veränderung in unseren Händen liegt.“ Die Gedenkstunde endete mit Kranzniederlegungen am Mahnmal und der anschließenden Möglichkeit zum Gedankenaustausch.

KONTAKT FÜR ANGEHÖRIGE

Die Arbeitsgruppe NS-Psychiatrie in Alzey/Rheinhessen erforscht seit 25 Jahren das Schicksal von rheinhessischen Frauen, Männern und Kindern, die Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns wurden, durch Zwangssterilisation und/oder Krankenmord, beschönigt als „Euthanasie“. Nach den Tötungen erhielten die Angehörigen gefälschte Urkunden über Todestag, Todesursache, Todesort.

Bis heute kennen viele Familien das wirkliche Schicksal ihrer Angehörigen noch nicht. Sie können sich wenden an: Renate Rosenau, Ebertstraße 26 C, 55232 Alzey.

Allgemeine Zeitung, 28. Januar 2020

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