Kinderpsychiater Prof. Michael Huss: Gesellschaftliches Problem wird stiefmütterlich behandelt

Immer mehr junge Menschen wegen psychischer Probleme im Krankenhaus

Kinderpsychiater Prof. Dr. Michael Huss.

Laut Statistischem Bundesamt waren im Jahr 2021 psychische Erkrankungen die häufigste Ursache für Krankenhausbehandlungen von 10- bis 17-Jährigen (knapp 81.000 von rund 427.000). Der Anteil von Behandlungen wegen psychischer Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen steigt seit Jahren kontinuierlich, heißt es in einer Medieninformation des Bundesamts aus diesem Jahr.

Warum aber werden in Deutschland so viele Kinder und Jugendliche wegen psychischer Erkrankungen stationär behandelt? Prof. Dr. Michael Huss, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrien der Rheinhessen-Fachkliniken Mainz und Alzey sowie Ärztlicher Direktor der Kliniken, weiß aus eigener Erfahrung, dass diese Zahlen in den vergangenen Jahren stetig zugenommen haben. Und er mahnt, gerade psychische Erkrankungen bedeuteten „biographische Brüche“ bei den jungen Patent:innen.

Allerdings vermisst der Arzt und Psychologe bei der Statistik eine Einordnung der Zahlen zum Beispiel im Vergleich zu anderen Ländern. Der besonders hohe Anteil an Krankenhausbehandlungen sei auch „ein kulturbezogenes Phänomen“: Deutschland weise international mit die meisten Krankenhausbetten pro Kopf auf. „Das Krankenhaus ist der Ort, an dem man sich behandeln lässt.“ Gleichzeitig ist die Ambulantisierung in Deutschland noch nicht sehr ausgeprägt, gibt er zu bedenken. Aber auch der Anstieg von ambulanten Fällen in anderen Ländern müsse berücksichtigt werden. Das bedeutet: Generell steigt der Behandlungsbedarf für Kinder und Jugendliche an. In Deutschland für den stationären Bereich, in anderen Ländern mangels stationärer Kapazitäten im ambulanten Bereich, der für Huss auch bei uns mit entsprechend guter Ausstattung zu bevorzugen wäre.

Problem von gesellschaftlicher Bedeutung
Nichtsdestotrotz sind die Krankenhausbehandlungen 10- bis 17-Jähriger wegen psychischer Erkrankungen sehr hoch. Junge Menschen, die psychisch erkranken, verlieren an Lebensqualität. „Der Einfluss psychischer Erkrankungen ist immens.“ Gemessen an der gesellschaftlichen Bedeutung werde dies stiefmütterlich behandelt. „Die Psyche ist mächtig“, so der renommierte Kinder- und Jugendpsychiater, „und sie schlägt durch“.

Es wird schwieriger, Krisen zu überwinden
Dreht man die Erkenntnis der Statistik herum, folgt dies: Ganz offensichtlich nimmt die Zahl der Gesunden ab. „Die Rahmenbedingungen scheinen so zu sein, dass es schwieriger wird, Krisen zu überwinden“, sagt Michael Huss. Sein Erklärungsansatz geht von der Bedürfnispyramide von Maslow aus den 1920er-Jahren aus. Die theoretische Grundlage der Sozialpsychologie beschreibt Motivationen und Bedürfnisse des Menschen. Die fünf Überkategorien (Grundbedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Wertschätzung, Selbstverwirklichung) unterteilt Maslow in „Defizitbedürfnisse“ und „Wachstumsbedürfnisse“. Die Nichtbefriedigung von Defizitbedürfnissen kann physische oder psychische Störungen hervorrufen, beispielsweise wenn soziale Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse oder „Ich-Bedürfnisse“ (=Wertschätzung) nicht erfüllt werden.

Kleineres soziales Umfeld
In einer leistungsorientierten Gesellschaft gibt es das Phänomen, dass man nicht genügt, da es stets höher, schneller und weiter gehen muss. Das, so Prof. Huss, ist eine „Haltung, die sich immer weiter ausprägt“. Junge Menschen haben ein kleineres soziales Lernfeld, sie haben weniger gleichaltrige Interaktionen, wodurch soziale Basisfunktionen weniger ausgeprägt sind als gewünscht. Durch „moderne Lebensumstände“ können sich junge Menschen auch gar nicht mehr schützen.

Hinzu kommt ein „Hyperfokus“ vieler Eltern und ein großes Bemühen, „unique“ zu sein, ein „Brandbeschleuniger der Individuation, also der Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur. Signale zum Innehalten fehlen, Grundparameter stimmen nicht mehr. Ob das so gesund ist, ob das mit der psychischen Gesundheit kompatibel ist, ist eine weitere Frage – die vielleicht mit der genannten Statistik teilweise bereits beantwortet ist.

Für Michael Huss ist das Fazit klar: „Wir müssen etwas tun!“ Denn die Folgen für betroffene Kinder und Jugendliche sind Depressionen, Ängste, Selbstverletzungen, sozialer Rückzug, soziale Phobien. Betroffene steigen aus dem Teilhabeprozess aus. Dieser Trend war vor der Corona-Pandemie schon da, wurde schließlich durch sie noch verstärkt. Wolfgang Pape

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