Resilienz in der Pflege - Online-Symposium mit hochkarätigen Gästen

Wie man toxischem Dauerstress entgehen kann

„Gerade Angehörige sind besonders davon bedroht, sich bei der Pflege zu übernehmen und auf Dauer auszubrennen“, sagt Dr. Alexandra Wuttke-Linnemann vom Zentrum für psychische Gesundheit im Alter (ZpGA).

„Im Gesundheitswesen hat sich eine Misstrauenskultur entwickelt, die sich in einem Bürokratie- und Dokumentationswust äußert. Pflegende müssen an dieser Stelle entlastet werden“, sagt der designierte Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Dr. Gerald Gaß.

Symposium mit Gesundheitsministerin bildete Auftakt einer Veranstaltungsreihe mit kostenlosen Workshops – Mit mehr als 430 Online-Teilnehmern größte Veranstaltung in der Geschichte der Rhein-Mosel-Akademie

Mainz/Andernach. Resilienz in der Pflege, also die Stärkung der eigenen Widerstandsfähigkeit, hat eine enorme gesellschaftliche Relevanz. Rund eine Million Menschen arbeiten beruflich im Pflegesektor, zu 85 Prozent Frauen. Zwei Drittel der Pflegeleistung wird jedoch in Form so genannter informeller Pflege geleistet, also im Privaten von Partnern und Angehörigen. „Gerade diese sind besonders davon bedroht sich bei der Pflege zu übernehmen und auf Dauer auszubrennen“ sagt Dr. Alexandra Wuttke-Linnemann, psychologische Psychotherapeutin, die zusammen mit Prof. Dr. Andreas Fellgiebel das Zentrum für psychische Gesundheit im Alter (ZpGA) in Mainz leitet.

In einem zweistündigen Online-Symposium zum Thema „Resilienz in der Pflege“ beleuchtete das ZpGA das Thema in vielen Facetten. Mehr als 430 Teilnehmer aus dem gesamten Bundesgebiet und sogar aus Österreich waren eingeloggt. Damit ist diese Online-Veranstaltung die größte in der 16-jährigen Geschichte der Rhein-Mosel-Akademie. Das Symposium bildete den Auftakt zu einer Veranstaltungsreihe, die in den kommenden Tagen durch kostenlose Workshops fortgeführt und ergänzt wird. Fellgiebel, Gründer des ZpGA unter der Trägerschaft des Landeskrankenhauses, leitete die Veranstaltung. Er verdeutlichte in seiner Einführung die Resilienz als Immunsystem der Seele und stellte die Bedeutung von Präventionsforschung und innovativen Versorgungsmodellen heraus, um eben auch pflegende Angehörige zu entlasten.

Ministerin: Angehörige sind zentrale Säule

Unterstützt wurden die Veranstalter von der rheinland-pfälzischen Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler. Im Rahmen der Podiumsdiskussion verdeutlichte sie: „Angehörige sind eine zentrale Säule bei der Versorgung pflegebedürftiger Menschen. Im Sinne einer guten Selbstsorge benötigen pflegende Angehörige Auszeiten, Stärkung und Entlastung. In Rheinland-Pfalz haben wir ein dichtes Netz aus Pflegediensten, Tagespflegen, Angeboten zur Unterstützung im Alltag, Pflegestützpunkten und vielen weiteren, auch demenzspezifischen Strukturen.“

Diese gelte es zu erhalten und weiter zu entwickeln. „In der professionellen Pflege müssen wir zu fachlich fundierten Personalbemessungssystemen kommen, um der Arbeitsverdichtung zuverlässig zu begegnen. Zudem ist ein flächendeckender Tarifvertrag überfällig. Gemeinsam mit den Arbeitgebern gilt es schließlich, die Arbeitsbedingungen mit vielfältigen Maßnahmen, nicht zuletzt aus der konzertierten Aktion Pflege des Bundes und der Fachkräfte- und Qualifizierungsinitiative Pflege 2.0 in Rheinland-Pfalz, zu verbessern“, so die Ministerin.

Angehörige bisher oft übersehen

Pflegende Angehörige seien „der unsichtbare zweite Patient im Hintergrund“, bekräftigte Alexandra Wuttke-Linnemann. Sie sind häufig dafür verantwortlich, dass die häusliche Pflege stabil bleibt. Bislang würden sie jedoch bei der Patientenbehandlung oft übersehen. „Das ist fatal.“ Denn: Je größer die Belastung, desto größer das Stresserleben mit negativen Gesundheitskonsequenzen, wie Depressionen oder körperlichen Schmerzen.

Es gibt allerdings pflegende Angehörige, die die Belastungen besser wegstecken und verkraften. Deshalb stellt sich die Forschung zunehmend die Frage: Wo liegt der Unterschied. Die Antwort: In der individuellen Widerstandskraft, neudeutsch Resilienz genannt. In der medizinischen Forschung ein erst in jüngerer Vergangenheit zunehmend beschriebenes Phänomen.

Stress und Resilienz stehen in einem Wechselspiel zueinander – auf unterschiedlichen Ebenen, so Wuttke-Linnemann. Gerade die psychologische Dimension – z.B. Optimismus, Selbstwirksamkeit – seien veränder- und trainierbar. Kurse, Seminare, Selbsthilfegruppen können eine wichtige Rolle spielen, Resilienz aufzubauen. Wobei auch die Gesellschaft und die soziale Dimension ins Spiel kommt bei der Frage, wie kann man einen Rahmen schaffen, um Resilienz wirksam werden zu lassen? Und: Passen die vorhandenen Angebote zur Situation der Pflegenden.

Hochkarätige Teilnehmer bei Podiumsdiskussion

Um diese und andere Fragen ging es bei der Podiumsdiskussion mit hochkarätigen Teilnehmern, die sowohl den politischen, als auch die professionellen Sparten des Pflegesektors repräsentierten:  Neben Wuttke-Linnemann und Ministerin Bätzing-Lichtenthäler waren dies Dr. Gerald Gaß (Geschäftsführer Landeskrankenhaus und designierter Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft), Prof. Dr. Frank Weidner (Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar), Prof. Dr. Brigitte Anderl-Doliwa (Landespflegekammer Rheinland-Pfalz) und Sabine Jansen von der Deutsche Alzheimer Gesellschaft. Die Moderation übernahm ZpGA-Leiter Andreas Fellgiebel, dem es gelang, eine lebendige Diskussion zu ermöglichen. Er spannte den Bogen von professioneller zu informeller Pflege und beleuchtete die Perspektiven von Wissenschaft, Politik und Versorgern.

Grundsätzliche Einigkeit herrschte darüber, dass das Thema zwar inzwischen erkannt sei, aber durchaus noch nicht bekannt genug und in der Praxis zu wenig etabliert. Frank Weidner sprach von einer Kosten-Nutzen-Rechnung, die nicht zueinander passe. Zum einen gebe es in der Gesellschaft ein Idealbild mit einer hohen Erwartungshaltung, zum anderen werde das System in hohem Maße stark von Selbstlosigkeit und Idealismus getragen, weil die Rahmenbedingungen oft verbesserungswürdig sind. „Anerkennung und Wertschätzung sind extrem wichtig“, sagt Weidner und schlug einen Kulturwandel vor. Denn: „Teilweise fühlen sich die Pflegenden alleine gelassen von den Vorgesetzten.“

Die Finanzierung der Pflege ist auch aus Sicht von Dr. Gerald Gaß ein wesentliches Problem. „Die Krankenhäuser erleben seit 15 Jahren eine systemimmanente Problemlage, die sich auf Pflegende auswirkt. Das haben wir alle toleriert, obwohl sich etwas zusammenbraute.“ Stichwort: Fallpauschale: „Diese konnte nie mit den Kostensteigerungen mithalten“, sagt Gaß. Folge: Die Arbeit musste noch effizienter von noch weniger Personal erledigt werden.

Das Verhältnis von Aufwand, den Pflegende betreiben müssten, um ihre Arbeit gut zu erledigen, habe sich im Verhältnis zu deren Kräften negativ entwickelt. „Pflegende finden sich im Beruf nicht mehr so wieder, wie sie sich sehen“, befürchtet Gaß. Zudem habe sich im Gesundheitswesen eine Misstrauenskultur entwickelt, die sich in einem Bürokratie- und Dokumentationswust äußere. „Pflegende müssen an dieser Stelle entlastet werden.“

Prof. Dr. Brigitte Anderl-Doliwa, Landespflegekammer Rheinland-Pfalz, ist überzeugt: „Pflege ist ein sinnstiftender Beruf, der viel verlangt. Das manifestiert sich in einem Zuviel an Arbeit und einem Zuwenig an Verdienst. Das zeigten auch Studien. In Rheinland-Pfalz könnten 1100 Pflegende mehr aktiv sein, wäre ihr Krankenstand auf dem selben Durchschnitt wie bei anderen Berufsgruppen, zitiert sie aus einer Studie der Barmer. Anderl-Doliwa ruft Pflegende dazu auf, sich zu organisieren, um die eigenen Interessen besser artikulieren zu können. „Wer nicht organisiert ist, ist nicht bedeutsam oder sichtbar.“

Applaus alleine hilft nicht, findet auch Sabine Jansen von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Dennoch sei auch schon viel passiert: So gebe es inzwischen Hotlines, wo sich pflegende Angehörige Rat holen könnten, etwa was die Kommunikation mit der Pflegekasse betreffe. Aber: „Viele warten zu lange“, sagt Jansen. Viele Angehörige müssten eigentlich bereits zu Beginn der Pflege von Hilfsangeboten erfahren. Doch dringen diese oft nicht bis zu den Pflegenden vor. Zudem sei Pflege, insbesondere im Bereich Demenz, oft noch immer mit einem Stigma behaftet, was daran hindere, soziale Aktivitäten als Ausgleich wahrzunehmen. Deshalb brauche es die ganze Gesellschaft, damit es leichter fällt, nach außen zu gehen und sich Hilfe zu holen, so Jansen.

Zu den Workshops anmelden

In den kommenden Tagen wird die Veranstaltungsreihe in kostenlosen Workshops fortgeführt und ergänzt. Themen hier sind:

  1. Psychologische erste Hilfe während Corona, Montag, 1. März, 10 - 11 Uhr
  2. Der FARBE-Fragebogen – Resilienzfaktoren in der Beratung von pflegenden Angehörigen, Dienstag, 2. März, 14 - 15 Uhr
  3. Hands-On-Workshop: Selbstfürsorge für pflegende Angehörige, - "Wenn Du es eilig hast, gehe langsam" (Konfuzius), Donnerstag, 4. März, 14 - 15:30 Uhr

» Anmeldung und weiter Infos

Die Videos und Dokumente zu den Vorträgen stehen im Media-Center für Sie bereit.

zurück