Wo steht die Psychiatrie 2020? - Interview zur Entwicklung der Behandlung

Lesen Sie das Interview mit Dr. Wolfgang Guth über das Thema. Guth war von 1984 bis 2012 Ärztlicher Direktor der Rheinhessen-Fachklinik Alzey. Er gilt als Pionier der Psychiatriereform in Rheinland-Pfalz.

Die Roswitha-Beck-Stiftung veranstaltete in unserer Rheinhessen-Fachklinik Alzey eine Tagung, die beleuchtete, welche Änderungen in der Psychiatrie nötig sind. Grundlage bildete ein Positionspapier der Friedrich-Ebert-Stiftung („Es ist Zeit für einen neuen Aufbruch“), das Denkanstöße zur Reform der psychosozialen Versorgung 45 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete geben will. Wir sprachen mit Dr. Wolfgang Guth über das Thema. Guth war von 1984 bis 2012 Ärztlicher Direktor der Rheinhessen-Fachklinik Alzey.


Frage: Herr Dr. Guth, die Tagung der Roswitha-Beck-Stiftung ging auch der Frage nach, ob wir eine neue Psychiatrie-Enquete wie in den 1970-er Jahren brauchen. Wie ist Ihre Meinung?

Antwort: Nein, wir brauchen keine neue Psychiatrie-Enquete. Das wurde auch von anderen Teilnehmern der Tagung so gesagt. Ein Ergebnis der Tagung war, dass wir sehen müssen, dass das bereits Erreichte erhalten bleibt. Ich nenne Ihnen die drei Grundpfeiler einer funktionierenden Psychiatrie: Gemeindenähe, ambulant vor stationär und die sozialpsychiatrische Behandlung mit einer möglichst vollständigen Annäherung an das normale Leben. Alle Forderungen wurden im Laufe der Jahre umgesetzt. Aber es gibt Bestrebungen, das wieder rückgängig zu machen. Wurden große psychiatrische Zentren seit den 1980er Jahren in ganz Deutschland verkleinert, gibt es mittlerweile auch Bestrebungen, die wieder etwas in Richtung Zentralisierung gehen.


Frage: Prof. Dr. Henning Saß, einstiger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, wird in einem Artikel zitiert, die Psychiatrie habe einen so tiefgreifenden Wandel erfahren wie kein anderes Gebiet der Medizin. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?

Antwort: Das Zitat würde ich so unterstreichen. Die Zustände in der Psychiatrie waren früher katastrophal. Es gab nur wenige zentrale Einrichtungen, in denen die Patienten in riesigen Sälen behandelt wurden. Nach einer Weile kamen sie dann in den Langzeitbereich. Man spricht bei der Psychiatrie dieser Zeit nicht ohne Grund von einer „Verwahrpsychiatrie“. Und es gab zusätzlich viel zu wenig Personal. Ab den 1990er Jahren wurden die Reformen in Rheinland-Pfalz im Zuge der Expertenkommission umgesetzt. Im Vergleich zu anderen Ländern wurde gut nachgeholt, bis wir auf einem deutschlandweiten Standard waren. Davor gab es nichts in Rheinland-Pfalz. Das kam erst mit der politischen Wende in Schwung – das kann man, unabhängig von der eigenen politischen Prägung, so sagen.


Frage: Ein zentraler Punkt ist die Dezentralisierung der Psychiatrie. Erklären Sie bitte, wieso eine Dezentralisierung besser ist als eine Behandlung in einem Zentrum.

Antwort: Es geht darum, dass man seelische Probleme dort behandeln können muss, wo man auch beispielsweise eine Blinddarmbehandlung durchführt – in der Nähe des Wohnorts. Geschieht das weit weg vom eigenen Zuhause, von der Familie, von der gewohnten Umgebung, ist das kontraproduktiv was die Therapie angeht.


Frage: Gemeindenahe Psychiatrie bedeutet eventuell auch, dass psychisch kranke Menschen in meiner Nachbarschaft leben. Das erfordert unter Umständen ein gewisses Maß an Toleranz. Müsste nicht besser kommuniziert werden, dass jeder von einer psychischen Erkrankung betroffen sein kann, um die Toleranz in der Gesellschaft zu erhöhen? Laut dem Positionspapier der Friedrich-Ebert-Stiftung sind im Laufe eines Jahres 27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland von einer psychischen Erkrankung beliebigen Schweregrads betroffen.

Antwort: Ich kann Ihnen noch andere Zahlen nennen. Jeder dritte Bundesbürger macht in seinem Leben eine behandlungsbedürftige Krise durch. Sechs bis acht Millionen Bundesbürger müssen in einem Jahr behandelt werden. Die Toleranz in der Gesellschaft ist noch nicht so gegeben, wie es nötig wäre. Immer wieder erlebt man Situationen, die das verdeutlichen. Da steckt noch vieles in den Menschen drin. Früher haben sich auch an einer Depression erkrankte Menschen unnötig gequält und sich nicht in Behandlung gegeben. Gerade bei einer Depression kann man wirklich etwas dagegen machen. Aber auch die Medien spielen eine Rolle. Wenn ein psychisch kranker Straftäter in die Forensik eingewiesen wird, heißt es in der Regel in den Medien, dass er in die Psychiatrie eingeliefert wurde. Das ist zu allgemein und führt zu der Sorge, dass man, wenn man selbst von psychischen Problemen betroffen ist, mit Straftätern auf einer Station ist. Eine falsche Darstellung führt so zu Missverständnissen. Grundsätzlich sollte gelten, was die Toleranz angeht: Das Spektrum der Gesellschaft muss so groß sein. Das muss man aushalten können.


Frage: Eine Ausweitung der gemeindenahen Psychiatrie wird wohl Geld kosten.

Antwort: Ich gehe davon aus, dass es nicht teurer werden wird – vielleicht sogar das Gegenteil. Ein Problem ist, dass die Finanzierung so verzweigt ist und alle Kostenträger schieben sich gegenseitig die Kosten zu. Daher gibt es schon lange die Forderung nach einem Globalbudget für die Psychiatrie.


Frage: Fachpersonal ist jetzt schon knapp. Dieser Missstand würde mit einer Ausweitung der Behandlungsmöglichkeiten noch extremer werden.

Es gibt viel zu wenig Personal. Ich wundere mich, dass es überhaupt noch gelingt, qualifiziertes Personal zu finden. Neben der Pflegekompetenz wird auch eine Sicherungskompetenz vorausgesetzt. Das ist einerseits fragwürdig und wird auch nicht entsprechend belohnt – die Dotierung der Pflegefachkräfte ist nicht angemessen.


Herr Dr. Guth, vielen Dank für das Gespräch!

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