Ein (Seelen-)Doktor für dicke Kinder

Johannes Oepen gibt Klinikleitung ab, bleibt aber Vorsitzender des Adipositas-Netzwerks

Von Stefan Schröder

MAINZ „Viele Bürokraten nehmen mich als Anarchist wahr.“ Zeit seines Lebens hat sich Johannes Oepen, Kinderarzt und Facharzt für rehabilitative Medizin, mit Regeln auseinandergesetzt und macht gegen Ende seiner hauptberuflichen Tätigkeit erstaunliche Entdeckungen. Früher gab es für ihn Regeln, um sie zu missachten, obwohl er gar kein 68er gewesen sei, wie er bedauernd anmerkt. Vor der schwarzen Pädagogik mit Rohrstock und Ausgrenzungen hat ihn seine Mutter in den 50er-Jahren bewahrt. Die Ärztin und Ehefrau eines Medizin-Professors setzte bei fünf Söhnen klare Grenzen. Aber nach dem Motto „wer sich an etwas halten soll, muss verstehen, warum er das tun soll“; Vorgaben befolgen ja, aber nur mit eingeschaltetem Gehirn.

29 Jahre hat Oepen das Viktoriastift in Bad Kreuznach nach dieser Devise geleitet. Im Februar gibt er die Führung des Behandlungszentrums für Kinder und Jugendliche mit Benachteiligungen an seine Nachfolgerin Beate Kentner-Figura ab. Ganz gewaltig habe er sich selbst in diesen Jahrzehnten verändert frei nach dem Spruch „Wir lachen über die Ansichten unserer Väter, wir schmunzeln über die der Großväter, und wir sprechen voller Achtung von den Leistungen unserer Urgroßväter“.

Kinder müssen sich erst einmal wieder selbst mögen

Allerdings, so wird man ergänzen müssen, gab es zu Zeiten der Ahnen ein Problem wohl nur am Rande: dicke Kinder. Oepen hat es in der Klinik und als Vorsitzender des Adipositas-Netzwerks Rheinland-Pfalz in den letzten Jahren intensiv beschäftigt, und er ist bei diesem Thema über die Landesgrenzen hinaus eine Institution. Man sei weggekommen von der Idee, die Kinder müssten vor allem abnehmen. Erst einmal müssten sie sich wieder selbst mögen.

Das Stigma, die Ausgrenzung der Gesellschaft, das Necken, Ärgern sei für viele Menschen mit Übergewicht besonders schlimm, weil sie oft sensibler reagierten als andere. Sie geben also gute Zielscheiben für Spötter ab. Der humorvolle Süddeutsche ist weit davon entfernt, Witze über Dicke aus politischer Korrektheit zu verbieten. Gags von Müller-Westernhagen oder Harald Schmidt müsse man akzeptieren, aber genauso müsse erlaubt sein zu sagen: „Das ist ein saublöder Spruch.“

In Bad Kreuznach lernen Kinder mit ihren Benachteiligungen umzugehen. Mit chronischen Erkrankungen wie Asthma oder Diabetes zum Beispiel; akute gefährliche Kinderkrankheiten seien dank konsequenter Impfungen weitgehend besiegt. Das Ziel der mehrwöchigen Aufenthalte ist Selbstmanagement oder die Selbstwirksamkeitserwartung, wie es sperrig im Pädagogendeutsch heißt. Übersetzt könnte das heißen: Ich weiß, dass ich es schaffen kann. Den Kindern und Jugendlichen schlichtes Wissen zu verabreichen, fördere nur die Abwehr. „Mit dem Thema Gesundheit könnt ihr Kinder nur vertreiben“, zitiert Oepen einen Kollegen.

Deutlich mehr krankhaft übergewichtige Jugendliche

Adipositas, das hat Oepen schon vor 20 Jahren erkannt, ist ein Wachstumsmarkt. Daher hat er in Kooperation mit der Universität Bremen ein psychologisches Konzept entwickelt. Mittlerweile ist der Anteil Übergewichtiger und adipöser (also krankhaft dicker) Kinder und Jugendlicher um 50 Prozent gestiegen.

Die Ursachen sieht Oepen in den meisten Fällen in sozial belasteten, nicht sozialschwachen Familien, wie er betont. Ergebnis sei Bewegungsarmut und falsche Ernährung. Falls es dann doch ans Abnehmen gehe, gehöre unbedingt Bewegung dazu. Und die Unterstützung der Familie. Familie ist Oepen wichtig. Das gilt auch privat. Verheiratet mit einer Ärztin, Vater zweier Kinder und vor allem Großvater zweier Enkelkinder. Wobei sich am gescheiterten Versuch, Nutella am heimischen Frühstückstisch zu verhindern, schon zeigt, dass der Prophet im eigenen Lande nicht viel gilt.

Der Berufsausstieg läuft schleichend ab. Der bald 66-Jährige wird im Viktoriastift noch eine Weile als Kinderarzt zum Team gehören, den Vorsitz im Adipositas-Netzwerk behält er ebenfalls. Und weil sein Body-Mass-Index weit von den Idealwerten entfernt ist, hat er sich auch fest vorgenommen, mehr mit dem Rad zu fahren.

Allgemeine Zeitung, 29. Januar 2019

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