Gemeinsam statt einsam

In der Tagesstätte der Rheinhessen-Fachklinik bekommen psychisch Erkrankte Hilfe im Alltag und erfahren in der Wohngruppe Gemeinschaft.

Von Sören Heim

Vor etwa eineinhalb Jahren wurde mit großer Resonanz die Tagesklinik der Rheinhessen-Fachklinik Alzey in Bingen eröffnet. Durch ihre prominente Lage direkt an der Mainzer Straße hat sie seitdem einige öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Weniger bekannt ist allerdings, dass mit der Tagesstätte am Fruchtmarkt 6 bereits seit fast 20 Jahren eine weitere Außenstelle der Rheinhessen-Fachklinik in Bingen existiert, die sowohl eine Tagesbetreuung mit 14 Plätzen als auch eine Wohngruppe mit sechs Plätzen umfasst. Ein wenig mehr Aufmerksamkeit auch für diese Institution wünscht sich Marie-Sophie-Heiland, die in der Tagesstätte als Ergotherapeutin tätig ist. Auch, weil es eben wichtig sei, dass Betroffene, Angehörige, Ärzte von einem solchen Angebot wissen. Denn die Hürden, Hilfe zu suchen, aber auch sich längerfristig unterstützen zu lassen, seien gerade im Falle psychischer Erkrankungen bekanntlich hoch, so Heiland weiter. Und die Tagesstätte bietet dahingehend ein weitreichendes Angebot, von der Erstberatung über die tägliche Betreuung bis hin zur ambulanten Betreuung.

„Es gibt hier vor Ort keine Psychologen oder Psychiater“, erzählt Aneta Grünewald, Sozialpädagogin in der Tagesstätte. „Unsere Gäste und Bewohner sind oder waren entweder in der Rheinhessen-Fachklinik in Behandlung oder bei einem niedergelassenen Arzt.“ Was die Tagesstätte leiste, sei vor allem Unterstützung und Motivation bei den ganz alltäglichen Problemen, die Erkrankungen wie langwierige Depressionen, Psychosen oder soziale Phobien mit sich brächten. Wer davon nicht betroffen sei, könne sich das vielleicht gar nicht richtig vorstellen. Doch Betroffene hätten oft Schwierigkeiten, ihren Alltag überhaupt zu organisieren. Kommen manchmal gar nicht aus dem Bett, haben Schwierigkeiten, Termine einzuhalten oder überhaupt unter Menschen zu gehen. So unterschiedlich wie die Probleme der Gäste gestaltet sich dann auch das Angebot. Da gibt es erst einmal, als grobe Orientierung, natürlich ein reguläres Tages- und Wochenprogramm, das etwa Ausflüge oder Kreativangebote, Hirnjogging, Spielenachmittage oder auch das Café „Kontakt“ mit Kaffee, Kuchen und Gesprächen einschließt.

Aber auch sogenannte Trainings werden angeboten: vom Einkaufs- bis hin zum Hygienetraining. Woran die Gäste arbeiten möchten, daran wird gearbeitet. Ein ganz wichtiger Aspekt, gibt Grünewald zu bedenken, sei allerdings auch das einfache Gespräch. Vielleicht sogar der wichtigste. Viele der Tagesgäste seien im Alltag allein, das einfache Zusammensein mit den Mitarbeitern und mit den anderen Gästen sei daher ungemein wichtig. Das gelte auch für die ambulante Betreuung, bei der Mitarbeiter der Klinik drei bis vier Stunden die Woche mit Patienten verbringen, die nicht zu den Tagesgästen oder Bewohnern zählen. Auch hier helfe man bei den Problemen, die gerade anstünden, und stehe auch einfach als Gesprächspartner bereit, so Grünewald.

Doch warum muss sich eine medizinische Einrichtung eigentlich um Öffentlichkeitsarbeit kümmern? Werden die Klienten nicht sowieso von Ärzten mit der Tagesstätte in Kontakt gebracht? „Teils ist das so“, sagt Heiland. „Aber auch unter den niedergelassenen Ärzten glauben wir, dass wir bekannter werden müssen. Dass es so ein Angebot in Bingen gibt, hat sich bisher einfach zu wenig herum gesprochen.“ Zwar hätten Betroffene oft Schwierigkeiten, die Initiative zu zeigen, mit der Tagesstätte in Kontakt zu treten, aber gerade Angehörige wolle man so jedenfalls ansprechen, die dann vielleicht den Kontakt herstellen könnten.

Das Angebot der Tagesstätte ist dabei durchaus niederschwellig. Für einen Tagesplatz oder gar einen Platz in der Wohngruppe sind zwar eine Diagnose und eine Bewilligung der Krankenkasse vonnöten, nicht aber für die Kontakt- und Informationsstelle, wo Mittwoch von 16 bis 18 Uhr kostenlose Erstgespräche stattfinden und die Mitarbeiter der Tagesstätte Patienten mit den für sie passenden Kontakten zu Ärzten oder anderen Einrichtungen zusammenbringen. Ein ganz zentrales Element der Arbeit der psychiatrischen Tagesstätte ist der gemeinsame Tagesablauf der Gäste und Bewohner. Das Zusammensein, das auch von gegenseitiger Hilfe unter den Betroffenen lebt.

Nicht alle reden gern mit Außenstehenden über ihre Probleme, aber Wolfgang Heiser ist so dankbar, dass er vor gut fünf Jahren den Weg in die Tagesstätte gefunden hat, dass er gern über seine Erfahrungen dort spricht. Denn Heiser ist das Herz der Werkstatt im Arbeitsraum, wo der gelernte Kfz-Mechaniker, der lange in der Qualitätskontrolle im Maschinenbau und auch in einem Möbelunternehmen gearbeitet hat, selbst Schreinerarbeiten verrichtet, und auch andere Gäste der Klinik gern an den Maschinen unterweist und immer mit Rat und Tat zur Seite steht. Im Moment konzentriert sich Heiser auf die Herstellung filigran gearbeiteter Topfuntersetzer, die an Scharnieren geklappt werden können – und so binnen kurzer Zeit auf die Hälfte ihrer Größe zusammenschrumpfen. Als Rentner sei er viel allein gewesen, sagt Heiser. „Da kann einem schon die Decke auf den Kopf fallen und man kommt vielleicht auf dumme Gedanken.“ Die Tagesstätte ist für ihn ein neues Lebenszentrum geworden, jeden Tag arbeitet er in der Werkstatt, trinkt Kaffee mit den anderen Gästen, hilft im Haus, wo immer Holzarbeiten anfallen. So etwas verleihe dem Leben wieder Sinn, insbesondere, wenn man dann sein erworbenes Wissen weitergeben könne. Heiser ist natürlich nicht der einzige, für den die Tagesstätte ein solcher Lebensmittelpunkt geworden ist, der auch die eigenen Fähigkeiten fordert. Ein anderer Bewohner etwa hilft im Haus, wenn elektronische Geräte den Geist aufgeben, weitere machen sich in der Küche nützlich oder gehen einkaufen, wie überhaupt viele Aufgaben im Haus gemeinsam angegangen werden.

KONTAKT

Psychiatrische Tagesstätte Bingen , Fruchtmarkt 6, 55411 Bingen

Telefon 06721-40 46 81, Fax: 06721-40 89 60, ts-bingen@rfk.landeskrankenhaus.de

Allgemeine Zeitung, 13. Juli 2019

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