Wenn der Druck zu groß wird ...

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Alzey hilft stationär und ambulant jungen Menschen

Von Denise Kopyciok

ALZEY. Sie kommen mit dem Leistungsdruck im Unterricht nicht klar, werden in der WhatsApp-Gruppe der Schulklasse gemobbt und bekommen Modelmaße zur Hauptsendezeit im Privatfernsehen vorgelebt: Der Alltag von Kindern und Jugendlichen hat sich verändert, genauso wie das soziale Umfeld. Ständig sind sie in Kontakt mit den Eltern, die oft wie Helikopter um sie herum kreisen, sie in Watte packen, fördern, fordern, manchmal überstrapazieren. Nicht jedes Kind hält dem Druck stand.

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Alzey ist ein Ort, an dem solche Kinder aufgefangen werden. Sie haben Depressionen oder Essstörungen, Verhaltensaufmerksamkeits- oder Anpassungsstörungen entwickelt. „Das muss nicht immer am Kind liegen“, erklärt Prof. Dr. Michael Huss. Er ist Ärztlicher Direktor und Lehrstuhlinhaber für Kinderpsychologie an der Uni Mainz. Im ersten Halbjahr 2019 zählt die Kinderpsychiatrie der Rheinhessen-Fachklinik schon 546 Fälle.

Allein für Essstörungen gibt es eine eigene Station. Die Diagnose Unterernährung bekommen hauptsächlich Mädchen. „Und die werden immer jünger“, erklärt Huss. Viele Mädchen hungern schon vor der Pubertät, sodass sich der Körper gar nicht mehr weiterentwickele. „Diagnosekriterien wie das Aussetzen der Periode mussten wir da irgendwann rausnehmen.“

Nicht nur mehr, vor allem auch immer jüngere Kinder werden in Alzey behandelt. Vom Grundschulalter bis zum Abitur zeigt sich dennoch ein Generationsmuster: „Die Eltern investieren massiv in den Erfolg ihrer Kinder“, erklärt Huss. Der familiäre Druck steigt, genauso wie der schulische: „Manche Kinder sind schon so erschöpft, bevor sie überhaupt das Abi schreiben müssen – die stellen gar keine Fragen mehr.“

Genauso leide auch die soziale Kompetenz: Als Einzelkind könne man schlecht lernen, „Koalitionen zu bilden oder zu streiten“, erklärt Huss. Auf der anderen Seite gebe es viele Pseudo-Koalitionen: „500 Freunde auf Facebook, aber wenn jemand beim Umzug helfen soll, hat keiner Zeit.“

Apropos Facebook: Die sozialen Medien spielen eine immer größere Rolle. Frank Müller, Pflegedirektor und Heimleitung der Rheinhessen-Fachklinik Alzey, beschreibt das „ständige Posten, Vergleichen und Online sein“ als Dauerreiz. „Wir kennen als Kinder noch die Phase der Langeweile, mal einfach nur den Regenbogen anschauen. Das Gefühl kennen heute viele Kinder nicht mehr“, erklärt er. Der Konformitätsdruck, der soziale Druck, der Dauerstress, die Überforderung – das alles wird zum Alltag. Bis die Kinder nicht mehr können.

In der stationären Kinderpsychiatrie erhalten Kinder eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung. In einem laut Michael Huss „liebevollen, sozialen Raum mit direkter Bezugsperson und individueller Therapie“ sollen die Kinder in ein soziales Gefüge zurückfinden. Dabei helfen etwa Ergo- oder Physiotherapie, Sport, der Therapiehof mit Pferden, Schweinen, Hunden und Meerschweinchen und auch das gemeinsame Kochen und Essen. In der stationären Kinderpsychiatrie bleiben die Patienten im durchschnitt 37 Tage.

„Die soziale Interaktion ist bei allem entscheidend“, macht Huss klar. Die Alzeyer Kinderpsychiatrie kämpft auch mit Vorurteilen. Während manch ein Kind partout nicht in die Klinik will, geben andere alles, um hier aufgenommen zu werden. „Die Leidensschwere ist häufig größer als die Barriere der Vorurteile“, sagt Michael Huss.

Viele Kinder kämpfen mit dem sozialen Druck, andere brauchen Hilfe, um die Scheidung oder gar den Verlust der Eltern zu verarbeiten. „Die traurigsten Fälle sind die Missbrauchsfälle“, erklärt Michael Huss, „das bringt unser Team immer wieder an Grenzen.“ Mit immer mehr Kliniken sei das Problem aber nicht in den Griff zu bekommen, macht der Ärztliche Direktor klar. Rund 400 Patienten werden in Alzey behandelt, mehrere Tausende ambulant. Die Kinderpsychiatrie ist mit 40 Betten permanent überbelegt. „Wir müssen dafür sorgen, dass die Kinder gar nicht erst auf die Station kommen.“

Präventive Arbeit sei für Kinder und Jugendlichen das A und O: Der richtige Umgang mit sozialen Medien, diese im positiven Sinne zu nutzen, muss auch so manch ein Erwachsener noch lernen. Genauso auch das Loslassen: Die Kinder kämen heute gar nicht mehr raus, bezieht sich Huss etwa auf „Taxi-Mama“. Ab in die Natur, auch mal Gefahren ausgesetzt werden, schlechtem Wetter, dem Heimweg von der Schule, um alltägliche Herausforderungen zu meistern. Denn ein alltägliches Beweisen, kleine Erfolgserlebnisse seien enorm wichtig.

KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE

Die Psychiatrie gehört zur Rheinhessen-Fachklinik (RFK). Es gibt viermal zehn Betten für die stationäre Behandlung und eine amulante Anlaufstelle.

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie kümmert sich um Menschen zwischen fünf und 18 Jahren , die an die RFK überwiesen werden.

13 Ärzte, sechs Psychologen und zusätzliche Therapeuten kümmern sich um die Kinder, sowie 50 Vollzeitkräfte im Pflege- und Erziehungsdienst, die 24 Stunden am Tag vor Ort sind.

Der soziale, familiäre, schulische Druck, die sozialen Medien und Ernährung sind die Hauptfaktoren , die die Kinder heutzutage belasten.

Allgemeine Zeitung, 5. Juli 2019

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