Weit mehr als Kunst

In der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach nutzen Patienten ihre Kreativität als Therapieform

Wer auf dem weitläufigen Gelände der Rhein-Mosel-Fachklinik in Andernach ein Atelier sucht, wird nicht fündig, selbst wenn er direkt davorsteht. Von außen erinnern die Räumlichkeiten im Erdgeschoss des sperrigen Altbaus immer noch an die alte Suchtstation, die hier einst untergebracht war. Hinter einer schweren Stahltür dann ein Hauch von Kunst: Auf abgewetzten Stufen lehnt dort, im Eingangsbereich, ein Mosaikpferdekopf an einer gefliesten Wand. In der sterilen Kammer wirkt das bunte Gebilde auf den ersten Blick wie ein zufällig platzierter Antagonismus. In Wirklichkeit jedoch ist es ein Aushängeschild: Denn wer es hierher geschafft hat, muss nur noch der Blickrichtung des Tieres folgen, die Treppe hinauf in einen kleinen Raum, aus dem der Geruch von Acryl und Kohle strömt.

Im Atelier der Klinik herrscht künstlerisches Chaos: An weißen Wänden stehen Regale, bis unter die Decke gefüllt mit Pinseln, Stiften und Papier. Gleich daneben Staffeleien, auf denen die jüngsten Werke prangen, ein Plastikstuhl trennt Zeichenpult und Schneidemaschine. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, vor der Fensterfront, stehen Holztische, an denen an diesem Morgen drei Patienten an ihren Arbeiten feilen. Angeleitet werden sie von Michael Bieg, freischaffender Künstler und Leiter der Kunsttherapie an der Rhein-Mosel-Fachklinik. Der 65-Jährige schreitet bedächtig durch die Reihen, schaut über Schultern, erteilt auch Ratschläge – sofern sie erwünscht sind.

„Das Atelier ist ein Zusatzangebot zum Therapieprogramm in der Klinik – mit einem freiwilligen Zugang“, erklärt Bieg, der die Kunsttherapie in Andernach mittlerweile seit knapp 40 Jahren betreut. Jeder könne kommen, wann er will, und zeichnen, was er will. Auch Heimbewohner, die nicht gruppenfähig sind und eine sehr enge Begleitung brauchen, seien willkommen.

„Wichtig ist lediglich, dass sich die Besucher bei dem, was sie hier machen, individuell aufgehoben fühlen“, sagt Bieg. „Und sie müssen bereit sein, etwas in die Hand zu nehmen und eigene Abdrücke zu hinterlassen.“ Danach sei das Eis fast immer gebrochen.

Begrenzt ist das Angebot auf maximal sieben Personen, die Besucherzahlen seien jedoch stark schwankend, erklärt der Künstler. „Manchmal kommen fünf auf einmal, dann steht das Atelier wieder einen halben Tag leer.“ Beirren lässt sich der 65-Jährige von dieser Unstetigkeit jedoch nicht. Die vielen Fragezeichen, die mit der Leitung der Kunsttherapie verbunden seien, hätten in ihm über die Jahre vielmehr eine gewisse Lebendigkeit hinterlassen. „Und irgendwo entspricht es ja auch meiner Arbeitsweise. Schließlich weiß ich gerade selbst nicht, was ich heute noch zeichne.“

In der Zwischenzeit hat sich auf den Tischen vor der Fensterfront einiges getan: Katja B. verpasst ihrem dritten Bild des Morgens gerade die letzten Konturen. Von dem einen lacht ein Clownsgesicht, auf dem anderen kommen farbgewaltige Sonnenstrahlen einer Palme bedrohlich nahe. „Katja ist unsere Schnellmalerin“, erklärt Bieg und lacht. Die 36-Jährige besucht die Kunsttherapie bereits seit mehr als zehn Jahren, je zweimal wöchentlich. „Manchmal schaffe ich an einem Tag auch sechs Bilder“, berichtet B. Insgesamt fassten die Mappen auf ihrem Zimmer mittlerweile mehr als 1000.

Charakteristisch für ihr Werk sind die kraftvollen Farben, die die 36-Jährige bevorzugt mit Ölpastellkreide aufträgt. Nur ausgestellt hat sie ihre zahlreichen Bilder noch nie – zu groß ist die Liebe zum eigenen Oeuvre. „Ich habe ein bisschen Bammel, dass jemand eines meiner Originale kaufen will. Ich wüsste nicht, wie ich in diesem Fall reagieren sollte“, sagt die 36-Jährige, schaut verlegen auf ihre neuesten Malereien und fügt an: „Mein Traum ist, dass nach meinem Tod irgendwo in einer Bibliothek ein Band mit meinen Bildern steht. Daran arbeite ich gerade.“

Einen ganz anderen künstlerischen Ansatz verfolgt Thaly Sura Schupp, die den Kohlestift nur einen Tisch weiter akribisch über das Papier gleiten lässt. Die 23-Jährige zeichnet Figuren und Szenen aus Julie Marohs Comic „Blau ist eine warme Farbe“ nach. „Ich versuche, einen reduzierten Zeichenstil zu kopieren und dabei winzigen Feinheiten wie einem Mundwinkel eine emotionale Tiefe zu verleihen“, erklärt Schupp. Das Ziel sei, mit wenig möglichst viel auszudrücken. Vor gut einem Jahr begann sie mit Formskizzen verschiedener Gegenstände. Das Nachahmen der Comics soll nun in einem nächsten Schritt das Repertoire an Grundkenntnissen erweitern, um vergleichbare Bilder eines Tages schließlich frei zeichnen zu können.

Von der Kunsttherapie, sagt Schupp, sei sie anfangs überrascht gewesen. „Ich dachte, es geht dabei in erster Linie darum, seine Probleme zu verarbeiten. Doch der eigentliche Schwerpunkt liegt aus meiner Sicht gar nicht auf dem therapeutischen, sondern eher auf dem handwerklichen Aspekt.“ Es sei diese kompetente Vermittlung künstlerischer Fertigkeiten, die sie an dem Angebot reize.

Ob die Werke aus den Therapiestunden am Ende letztlich ausstellungswürdig sind oder nicht, ist für Bieg dabei zweitrangig. „In der Kunst entsteht nicht nur auf dem Papier etwas, sondern auch in uns selbst“, sagt der 65-Jährige. Für die Besucher sei die Arbeit im Atelier daher eine Form aktiver Meditation, die ihnen dabei helfe, sich zu erholen. „Das Entscheidende ist die positive Erfahrung. Dass ich mich auf etwas einlasse und sehe, es funktioniert“, sagt Bieg, der vom Nutzen der Kunsttherapie überzeugt ist: „Der Zustand derer, die regelmäßig hier hinkommen, verbessert sich. Am Anfang sind sie oft verunsichert, teilweise auch traurig. Aber das künstlerische Schaffen tut ihnen gut.“

Sein Wirken in der Klinik versteht der 65-Jährige dabei als „Teilbeitrag“, dessen Bedeutung aus Sicht von Andreas Gilcher allerdings nicht zu vernachlässigen ist. Der 40-Jährige ist leitender Psychologe an der Rhein-Mosel-Fachklinik und erklärt: „Bei der Behandlung der Patienten gibt es grundsätzlich zwei Ansatzpunkte: einen psychiatrischen und einen psychotherapeutischen.“ Hinzu kämen ergänzende Angebote wie die Sport-, Ergo-, Musik- oder eben auch die Kunsttherapie, die im Gesamtkonstrukt eine wichtige Rolle spielten.

„Die Arbeit im Atelier hilft den Besuchern, aus ihren Sorgen und Selbstzweifeln auszusteigen, indem sie sich einem kreativen Prozess hingeben“, betont Gilcher. Darüber hinaus biete die Kunst eine Möglichkeit, seine Probleme auszudrücken und einen anderen Umgang damit zu finden. „Die Patienten können die Ängste, die sie in ihren Werken verarbeiten, auf diese Weise von außen betrachten. Dadurch gelingt es vielen, eine gewisse Distanz aufzubauen.“

Das Atelier sei jedoch noch aus einem anderen Grund von besonderem Wert: Viele psychische Erkrankungen äußerten sich in zwanghaften Denkmustern und würden mitverursacht durch einen überhöhten Leistungsanspruch an die eigene Person. Genau dieser Druck, erklärt Gilcher, werde den Teilnehmern der Kunsttherapie jedoch bereits durch den freiwilligen Zugang zu dem Angebot und die flexiblen Öffnungszeiten genommen. „Dadurch entsteht eine Art Insel, die die Patienten weniger von ihren Sorgen ab-, als vielmehr auf das Hier und Jetzt hinlenkt.“

Im Atelier packt Thaly Sura Schupp währenddessen Stifte und Zeichnungen zusammen. Die beiden anderen Besucher haben sich zu diesem Zeitpunkt längst in die Mittagspause verabschiedet. Wenn der Kunstraum seine Türen am Nachmittag wieder öffnet, wird Schupp nicht mehr dort sein. Die 23-Jährige hat heute ihren letzten Tag in der Klinik.

Was sie nun vorhat, möchte Bieg wissen. „Ich werde meine Ausbildung als Köchin abschließen und meine Fortschritte im Zeichnen zu Hause weiter vertiefen“, antwortet Schupp und hinterlässt zum Abschied noch einen symbolisch untherapeutischen Definitionsansatz: „Für mich bedeutet Kunst die wirkliche Darstellung der fast schon grausamen Schönheit der Realität.“

Stefan Schalles

Rhein-Hunsrück-Zeitung, 6. April 2019

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