Von Professionalisierung und Selbstvertrauen

Die Entwicklung des Pflegebereichs war in den 25 Jahren des Bestehens des Landeskrankenhauses bemerkenswert und sie ist erkennbar noch nicht beendet. Die Direktoren Frank Müller (Rheinhessen-Fachklinik Alzey), Rita Lorse und Karlheinz Saage (beide Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach) geben einen Einblick in Spannungsfelder, Professionalisierung und Selbstvertrauen der Pflege.

Pflegeberuf

Rita Lorse (Pflegedirektorin der Rhein-Mosel-Fachklinik), Frank Müller (Pflegedirektor der Rheinhessen-Fachklinik) und Karlheinz Saage (Direktor des Bereichs Fördern I Wohnen I Pflegen – Gemeindepsychiatrie) haben den Pflegebereich im Landeskrankenhaus in den vergangenen zwei Jahrzehnten maßgeblich mitgestaltet. Sie sind nicht nur Verantwortliche in ihren Einrichtungen, sondern auch Mitglieder:innen der Geschäftsleitung des Landeskrankenhauses. Anlässlich des 25-jährigen Bestehens unseres Unternehmens befragten wir die drei zur Entwicklung des Pflegeberufs im Spannungsfeld der Professionen. Im zweiten und letzten Teil geht es um die Akademisierung in der Pflege, die Einführung der Pflegekammer, die Auswirkungen der Pandemie auf den Beruf und die Entwicklung des Berufsbildes in der Zukunft.

Wie nehmen Sie die Entwicklung der Pflege in 25 Jahren Landeskrankenhaus wahr? Lässt sich die Pflege heute mit der Pflege von vor 25 Jahren vergleichen?

Rita Lorse: Wir haben einen Emanzipationsprozess durchgeführt hier im Haus. Mit der Einrichtung des Landeskrankenhauses hat die Pflege in den Direktorien und in den Einrichtungen ihren Platz bekommen. Damit bekam die Pflege entsprechend ihrer Kompetenzen auch den Freiraum, sich weiterzuentwickeln. Wir hatten ursprünglich versucht, die Führungsebene etwas zu verkleinern und die Kollegen aus der Basis stärker in pflegefachliche Themen zu nehmen, haben aber festgestellt, dass wir eine gute und stabile Führungsebene brauchen – und haben diese dann sukzessive ausgebaut.

Wir haben uns pflegefachlich in vielen Teilen entwickelt und wir haben die Akademisierung vorangetrieben. Das gelang uns besonders mit der Stiftungsprofessur.

Und wenn man fragt, was unterscheidet die Pflege früher von heute: Ich glaube nach wie vor, dass es uns antreibt, Patienten zu versorgen und die Pflege am Patienten auszurichten, dass man getrieben davon ist, gute Versorgung sicherzustellen. Das ist früher so gewesen, das ist heute so. Ich weiß, dass es uns gelungen ist, das mit einer höheren Fachlichkeit und Eigenverantwortung der Kollegen durchzuführen.

Frank Müller: Ich würde sogar noch ein Stück weit vorher anfangen. Ich selbst bin seit 22 Jahren im Unternehmen. Aber ich starte mal mit der Schilderung, wie ich das Landeskrankenhaus kennenlernte. Was ich besonders bezeichnend fand, war, dass dieser Träger Landeskrankenhaus wie kein anderer mir bekannter Arbeitgeber darauf Wert gelegt hat, dass zwischen den Professionen eine Gleichwertigkeit besteht – nämlich, dass die drei großen Säulen auf Augenhöhe miteinander arbeiten und dass immer Wert darauf gelegt wurde, dass kein Dissens, sondern ein Konsens steht, dass alle Beteiligten Kompromisse eingehen müssen.

Es wurde immer darauf geachtet, dass die Meinung zu den Themen, die uns als Gesamtunternehmen betreffen, von allen Berufsgruppen eingeholt wird, niemals singulär nur von einer Berufsgruppe. Das dürfen alle für sich in Anspruch nehmen, aber eben auch – und das hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch in keinem anderen Unternehmen erlebt – die Pflege. Das ist für mich bis heute bezeichnend beim Träger Landeskrankenhaus.

Karlheinz Saage: Das war auch ein Lernprozess. Die Geschäftsleitung war vor 25 Jahren streng nach Berufsgruppen und Arbeitsbereichen gegliedert. Die Ärzte und die Kaufleute, dann kam der Heimbereich, dann der Maßregelvollzug und dann kam die Pflege. Es war ein Prozess, der in den ersten Jahren stattgefunden hat, dass der Fokus wegging von den Einrichtungen hin zur Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Ansprüche in den Berufsgruppen. Das hat Herr Finke (erster Geschäftsführer des Landeskrankenhauses 1997 bis 2008, Anm. d. Red.) auch gesehen, dass zwar alle am selben Thema arbeiten, aber völlig unterschiedliche Sichtweisen haben und das Ganze nur funktionieren kann, wenn nicht nur eine Sichtweise zum Tragen kommt.

Rita Lorse: Genau diesen Part habe ich schon gar nicht mehr erlebt. Als ich vor 20 Jahren in die Geschäftsleitung eingetreten bin, bin ich kollegial miteinbezogen worden und habe mich nie diskriminiert, zurückgesetzt oder in der zweiten Reihe gefühlt. Es gab eben auch eine Geschäftsordnung des ersten Geschäftsführers, der ganz besonderen Wert auf diese drei Säulen gelegt hat. Ich habe gar kein Vakuum mehr gespürt, als ich in die Geschäftsleitung eingetreten bin.

Karlheinz Saage: Das war der Prozess der ersten vier Jahre, tatsächlich eine Basis zu schaffen. Das haben Herr Finke, auch die Herren Werner Schmitt und Alexander Schneider gut mitgetragen. Am Anfang hatten viele Kollegen in der Pflege, auch in der Betreuung, wenn ich in meinen Bereich reinschaue, Angst davor, Verantwortung zu übernehmen – das musste gelernt werden. Dazu mussten wir das Vertrauen schaffen im Sinne von „Ihr dürft das auch“. Natürlich haben wir auch Konflikte, aber die stehen wir gemeinsam durch. Das ist eigentlich ein Prozess, der seitdem permanent läuft.

Der große Vorteil ist tatsächlich, dass die Pflege ihr Feld hat, auf dem sie arbeiten kann. Ich finde es klasse, mittlerweile solche Sätze zu hören, wie „bei der Pflege schauen, heißt lernen“. Wir haben uns die Prozesse erarbeitet und entsprechend auch gesteuert. Insofern haben wir mittlerweile 20 Jahre Erfahrung in Organisation, in Prozessgestaltung und Prozessentwicklung. Das zeigt Wirkung. An vielen Stellen ernten wir die Früchte. Dazu zählt auch die Akademisierung, die jetzt mit Macht vorangeht. Diese Früchte, die wir jetzt ernten, sind vor 20 Jahren gesät worden.

Wenn ich als Pflegekraft Verantwortung übernehme, dann schafft das doch auch Selbstvertrauen.

Karlheinz Saage: Ja, im zweiten Schritt. Der erste Schritt ist: sich trauen. Der zweite ist dann: Zutrauen gewinnen.

Frank Müller: Pflege früher und heute. An der Frage würde ich nochmal die Antwort festmachen hinsichtlich des Professionalisierungsprozesses im Allgemeinen und im Landeskrankenhaus im Besonderen. Im Allgemeinen ist es ja so – und das ist kein Geheimnis – dass die Pflege in Deutschland nicht zu den führenden und innovativen Berufsgruppen im internationalen Vergleich zählt. Das hängt sehr viel mit der historischen Entwicklung zusammen, aber auch mit der berufspolitischen Entwicklung als Heil- und Hilfsberuf, als Erfüllungsgehilfe im ärztlichen Bereich. Das hat sich dann auch festgemacht in den rechtlichen Rahmenbedingungen bei Anordnungsverantwortung und Durchführungsverantwortung, aber auch bei dem Bereich, wie das eben in Deutschland in der Medizin etabliert ist, dass der Arzt die Vorbehaltsaufgaben von Diagnostik und Therapie hat. Das sind Rahmenbedingungen, die historisch gewachsen sind, die es der Pflege wahnsinnig schwer gemacht haben, Professionalisierungsbestrebungen voranzutreiben.

Nichtsdestotrotz gab es dann aber auch gerade in den vergangenen 20 Jahren zarte und behutsame Entwicklungen. Und die sind, glaube ich, gerade auch im Landeskrankenhaus in besonderer Weise sichtbar geworden. Ich fange mal an mit dem Thema, das Karlheinz Saage nannte: Ganz am Anfang, als das Leitbild des Landeskrankenhauses entstand, sind Untergruppen mit entstanden. Eines der Grundkonzepte war Rokokom, die „Rollenverteilte kontinuierliche Kommunikation“, bei der Rollen vergeben wurden im therapeutisch-pflegerischen Prozess, wo die Pflege dann auch die Rolle des Prozessbegleiters einnehmen durfte.

Und da ist dann sehr früh das losgegangen, was Herr Saage nannte, nämlich die Einladung, Verantwortung zu übernehmen. Wohlgemerkt die Einladung, sich trauen zu können, im multiprofessionellen Team etwas über den Patienten zu berichten, was man aus der Berufsgruppe der Pflege heraus beobachtet hat. Und da gab es auch eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die genau da ihre Aufgaben gefunden haben. Es gab aber auch einige, die sich das nicht getraut haben. Aber die Einladung wurde mit diesem grundlegenden Konzept trägerbezogen ausgesprochen. ich muss sagen, das war bahnbrechend.

Es ging damit weiter, dass wir die Chance hatten, mit dem Krankenhausinformationssystem ein ganz wichtiges Merkmal von Professionalisierung zu etablieren, nämlich den Pflegeprozess. Wir konnten im KIS den Pflegeprozess abbilden. Das heißt, Pflege geht strukturiert und geplant vor und eben nicht mehr nach Zuruf oder jeder macht`s anders oder so wie er denkt. Das hatten viele Kliniken in Rheinland-Pfalz nicht oder nur papiergestützt. Gerade Rita Lorse hat das KIS massiv vorangetrieben. Das sind Professionalisierungsmerkmale. Und da hat sich die Pflege, gerade bei uns im Haus enorm weiterentwickelt. Wir haben durchaus auch die eine oder andere Berufsgruppe vor uns hergetrieben. Jüngstes Beispiel ist eben auch das Thema mit Akademisierung und Stiftungsprofessur.

Rita Lorse: In den ersten Jahren wurden die Grundlagen gelegt. Wir sind jetzt mittlerweile so weit, dass die allgemeingültigen Expertenstandards, die auch in ganz Deutschland als Qualitätsmaßstab gelten, bei uns alle eingeführt sind.

Frank Müller: Was man an dieser Stelle sicherlich auch nennen muss, ist der Gamechanger PPUGV. Das hat quasi die Welt im Krankenhaus nochmal auf den Kopf gestellt. Insbesondere hat es auch die Pflege betroffen, besonders die Pflege. PPUGV steht für „Pflegepersonaluntergrenzenverordnung“ und die ist Ende 2020 auf den Markt gekommen. Das hat letzten Endes einen absoluten Systembruch zur Folge gehabt. Die Fragestellung, welche Patienten aufgenommen werden und wie viele, wurde früher ganz klar im ärztlichen Bereich entschieden. Punkt, das war festgelegt.

Durch die PPUGV ist ein totaler Systembruch entstanden, weil nämlich dadurch das Erfordernis, in bestimmten medizinischen Bereichen, insbesondere in der Somatik – noch nicht in der Psychiatrie – festgelegt wurde, dass für eine bestimmte Anzahl von Patienten eine bestimmte Anzahl an Pflegepersonal vorgehalten werden muss. Und auch mit der klaren Entscheidung der vergangenen beiden Geschäftsführer, dass diese PPUGV einzuhalten ist, ist die Entscheidung, wie viele Patienten aufgenommen werden, nicht mehr ausschließlich beim ärztlichen Bereich verordnet.

Auf der anderen Seite sind die pflegerischen Bereichsleitungen gefordert, dieses Personal vorzuhalten. Das limitiert im Zweifel auch die ganze Aufnahmekapazität einer Abteilung. Das ist ein riesiger Gamechanger gewesen, denn in der Vergangenheit ist in deutschen Krankenhäusern ja massiv Personal abgebaut worden. Im Landeskrankenhaus und in seinen Einrichtungen hingegen wurde Pflegepersonal aufgebaut – eine völlig andere Entwicklung also.

Rita Lorse: Der PPUGV ging zum Glück das Pflegestärkungsgesetz voraus. Damit haben wir natürlich auch die Chance genutzt, alles an Personal zu akquirieren, was uns möglich ist. Aber die Personalprobleme sind ja in der Welt. Wir haben einfach große Probleme, geeignetes Personal zu finden, der Markt ist leer. Und deshalb kommen wir immer weiter in das Problemfeld, dass wir tatsächlich die Patientenversorgung limitieren müssen, um die PPUGV einzuhalten. Das ist schon dramatisch. Die wesentliche Message aber ist: Die ersten Bemühungen, nach der DRG-Entwicklung Pflegepersonal abzubauen und Ärzte einzustellen, ist bei uns nie passiert. Wir haben da, wo der Bedarf deutlich war, weiter aufbauen können, sodass wir in der Gesamtentwicklung nicht so eklatant in Engpässe rutschten wie viele somatische Einrichtungen.

Wie sieht der langfristige Effekt der Akademisierung in der Pflege aus? Und welche Hürden sind zu überwinden, zum Beispiel in Bezug auf die Akzeptanz?

Rita Lorse: Es geht ja schon damit los, dass sich im Krankenhaus alles am ärztlichen Dienst ausrichtet. Der Arzt hat die Verordnungskompetenz und wir haben uns daran zu halten. Wir haben mit vielen Chefärzten über das Erstellen von Pflegediagnosen diskutiert - wir können Diagnosen stellen im pflegerischen Bereich. Wir müssen durchaus in der Lage sein, über ein Assessment, das wir am Patienten erstellen, ein Problemfeld zu erkennen, die Ressourcen des Patienten zu erkennen und daraus unsere pflegerischen Maßnahmen abzuleiten.

Im Verlauf der vergangenen Jahre ist auch den akademischen Berufsgruppen außerhalb der Pflege deutlich geworden, dass eine qualifizierte Pflege mehr tun kann, als das bisherige ablauforganisatorische oder stationsstrukturierende Aufgabenfeld und die Versorgung zu absolvieren. Auch wenn es darum geht, leitliniengerechte Versorgung am Patienten durchzuführen, gibt es viele pflege-therapeutische Aspekte, die die Pflegekraft schlechthin übernehmen kann, wo uns akademisierte Pflege aber nochmal deutlich weiterhelfen kann.

Karlheinz Saage: Es hat die Prozesse insgesamt verändert. Mittlerweile denken auch die Ärzte in die Richtung, dass alles nur in einem Miteinander funktioniert, also Kaufleute, Ärzte, Pflegekräfte müssen gemeinsam die Prozesse aufeinander abstimmen. Ansonsten funktioniert es nicht.

Die akademisierte Pflege lernt auch Managementfunktionen, lernt auch, Gesamtprozesse zu verstehen und zu strukturieren - und möchte das natürlich auch gerne umsetzen. Dazu braucht es auch die Möglichkeiten. Und wenn dann der Arzt wieder die alleinige Instanz ist, die es machen muss, ist das natürlich frustrierend. Im nächsten Schritt ist der Gesetzgeber gefordert, die Rahmenbedingungen zu verändern, so wie es außerhalb Deutschlands ja mittlerweile Usus ist. Diese Prozesse sind im Gang, es bewegt sich.

Frank Müller: Vor dem Hintergrund des Ärztemangels in Deutschland und in Anbetracht der Erkenntnis, dass es in Deutschland nicht mehr Studienplätze geben wird für Mediziner, und angesichts der Tatsache, dass die Medizin deutlich weiblicher wird, was zu neuen Herausforderungen führen wird, etwa bei der Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sind die Krankenhäuser gefordert, darauf Antworten zu finden.

Ich behaupte, alleine mit der Berufsgruppe der Ärzte werden wir die Herausforderungen der Zukunft nicht meistern können. Die Aufgaben werden zu groß und zu umfangreich. Gleichzeitig steigt die Nachfrage in einem Maße, in dem das Angebot nicht hinterherkommen kann. Insofern wäre es fatal, an der Stelle darauf zu verzichten, dass weitere Gesundheitsfachberufe einen Beitrag leisten können. Und da ist die Pflege nicht allein gefragt.

Andere Gesundheitsfachberufe fangen auch an, diesen Weg zu gehen. Die Pflege ist allerdings unglaublich vielen Anforderungen ausgesetzt; das sieht man auch im Pflegeberufereformgesetz sehr schön, dass neben dem Weg der vollakademisierten Pflegeausbildung, den es ja schon gibt, es aber immer noch die klassische Ausbildung gibt. Alleine an dem bunten Bild sieht man, dass sich die Pflege vielen Fragestellungen stellen muss, um den Anforderungen gerecht zu werden.

Der zweite Aspekt ist der der Aufgabe. Rita Lorse legte bereits einen Fokus darauf. Ich gehe noch ein bisschen weiter. Wir haben ja durchaus Handlungsfelder in der Medizin, wo den medizinischen Erkenntnissen Grenzen gesetzt sind. Ich nenne mal das Beispiel Demenz. Wir wissen ganz klar, dass es gegen Demenz keine Medikamente und keine Psychotherapieverfahren gibt, die nennenswert helfen. Wir wissen aber, dass es evidenzbasierte Pflegeinterventionen gibt, die sich durchaus günstig auf Demenz auswirken.

Der dritte Aspekt ist, dass wir in der Pflege „Role-Models“ brauchen. Es gab von der Robert-Bosch-Stiftung diese denkwürdige Schrift „Pflege braucht Eliten“. Damit hat die ganze Akademisierung in Deutschland angefangen. Man muss diesen Weg aber weiterdenken: Wir brauchen „Role-Models“, damit junge Kolleg:innen, die in den Beruf gehen, sehen, „das kannst du erreichen“. Wenn ich ehrgeizig bin und einen akademischen Weg einschlage, dann habe ich auch die Chance, Karriere zu machen. Das ist unglaublich wichtig, weil das wiederum für eine ganze Gruppe von Menschen ein Anreiz ist, in den Beruf zu gehen.

Eines dieser Angebote ist das, was wir jetzt unter „APN“ (Advanced Practice Nurse, Anmerkung der Redaktion) auch im Landeskrankenhaus versuchen, stärker zu etablieren. APN ist ein Begriff, der im angelsächsischen Bereich seit Jahrzehnten fest verankert ist - das ist eine Weiterentwicklung, bei der wir aufgefordert sind, Aufgabenfelder zu definieren. Das haben wir im Landeskrankenhaus ganz gut hingekriegt und haben meiner Meinung nach bahnbrechende Beispiele und Konzepte aufgeboten, die Sie in Krankenhäusern in Rheinland-Pfalz nicht finden können.

Bei all den Bemühungen um die Akademisierung muss ein Krankenhaus aber auch darauf achten, dass die Nicht-akademisierten nicht vernachlässigt werden.

Karlheinz Saage: Da kann man nicht widersprechen.

Rita Lorse: Grundsätzlich gilt: Jede Pflegekraft ist wichtig. Jede Pflegekraft leistet in ihrem Aufgabenfeld einen ganz wichtigen Beitrag. Dazu zähle ich auch die Servicekolleg:innen, die ja auch auf der Stationsebene arbeiten. Wir haben Stationssekretärinnen, wir haben Krankenpflegehelfer:innen auf vielen Stationen. Wir haben dreijährig ausgebildete Kolleg:innen, darunter viele mit langjähriger Berufserfahrung. Es gibt Kolleg:innen, die komplexe Aufgabenfelder eigenverantwortlich leisten können. Wir haben Fachkrankenpflegekräfte. Wir haben unsere akademisierten Kolleg:innen. Und wir haben akademisierte Kolleg:innen auf der Führungsebene und in der Pädagogik. Da kann man nicht sagen, die einen sind besser als die anderen - jeder auf seinem Qualifikationsniveau muss und soll das leisten, wozu er in der Lage ist.

Frank Müller: Ich will das noch ergänzen. So wie die beiden Kollegen das ausgeführt haben, haben wir ja in der Pflege einen Skill-Mix und einen Professionalisierungs-Mix. Im Moment beobachte ich eine eher kritische Entwicklung, die sich zuspitzt. Der Gesetzgeber hat angefangen, mit der PPUGV als Währungseinheit im Krankenhaus die dreijährig examinierte Pflegekraft zu definieren. Das ist eine völlig verkürzte und ganz schwierige Entwicklung, weil sie vernachlässigt, dass es uns gelungen ist, eine ganze Reihe von Aufgaben zu differenzieren.

So konnten wir den Servicedienst Pflege etablieren, um hauswirtschaftliche Aufgaben aus dem Aufgabenfeld der Pflege zu isolieren. Auf der anderen Seite haben wir die Dokumentationsassistenten, die uns auf der Station helfen. Es ist uns gelungen, diesen Skill-Mix aufzubauen, und der wird jetzt durch den Gesetzgeber eingeebnet. Das ist eine ganz kritische Entwicklung, weil wir jetzt wieder anfangen mit dieser Währungseinheit Aufgaben zurück zu übertragen an dreijährig Examinierte, die sich darin wiederfinden, dass sie Betten schieben, dass sie Dokumentationsaufgaben wahrnehmen müssen, weil die anderen verschwinden, da sie nicht mehr finanziert werden können. Das ist eine ganz schwierige Entwicklung und die ist völlig verkürzt und nicht das, was wir eigentlich brauchen.

Kann man kurz erklären, woran der größte Mangel in der Pflege besteht? Geld, Personal, gute Politik?

Rita Lorse: Ich glaube, dass wir alle angetreten sind, um unserer Verantwortung entsprechend gute Arbeit zu leisten. Das ist die Grundvoraussetzung. Da ist ein gutes Team und die entsprechende Personalpower schon ganz wichtig. Fehlt ein Drittel meines Teams durch Fachkräftemangel, kann ich mich meinen Aufgaben nicht widmen. Dann ist das natürlich etwas, was meinem Anspruch nicht entspricht. Natürlich spielt Geld auch immer eine Rolle. Natürlich wollen wir auch eine Vergütung entsprechend unserer Leistung haben.

Die Politik vernachlässigt uns ja komplett - indem sie ein Sozialgesetzbuch V implementiert, indem sie uns gar nicht erkennt. Auf politischer Ebene wird zwar über Pflegepersonal immer wieder gesprochen, aber wir werden nicht wirklich berufspolitisch wahrgenommen. Im Moment ist es auch so, dass ich gar nicht erkennen kann, dass man das Thema unterstützt.

Karlheinz Saage: Man muss alles ausbalancieren. Rita Lorse sagte, die Pflege muss wahrgenommen werden. Ja, aber die Pflege muss auch an sich selber noch arbeiten. Rheinland-Pfalz hat eine Pflegekammer, aber gucken Sie mal herum, wer sonst noch eine hat. Da ist ein Prozess in Gang gekommen, der seit Jahren läuft.

Sie nannten die Pflegekammer. Hat sie etwas gebracht?

Frank Müller: Meine Antwort auf Ihre Frage, woran es der Pflege wirklich mangelt, ist Selbstbewusstsein. Solange der schlafende Riese Pflege nicht in der Lage ist, sein Gewicht in die Waagschale zu werfen, wie wir das bei anderen Berufsgruppen gesehen haben, solange auch Pflege nicht in der Lage ist, ein Narrativ zu finden, wo der eigene Beitrag zur Wertschöpfung ist, solange werden wir immer in dieser nachteiligen Position sein.

Und jetzt leite ich über zu Ihrer Frage zur Kammer: Und deswegen ist es so erforderlich, eine Kammer zu haben. So wie alle Berufsgruppen, die über eine Kammer organisiert sind, eben auch ihre Interessensvertretung haben, in der alle automatisch Mitglied sind, die diesem Beruf angehören, ist es in diesem System auch erforderlich, dass die Berufsgruppe Pflege eine eigene Kammer hat. Ohne die wird eine wirkliche Interessensvertretung, wird all das, was ich eben genannt habe, nicht wirklich entstehen, weil wir sonst nämlich immer am Katzentisch sitzen werden.

Wird die Corona-Pandemie Ihrer Ansicht nach einen positiven Effekt haben im Hinblick auf Ansehen und Entwicklung der Pflegeberufe oder wird sich am Ende zeigen, außer Applaus und einer Prämie war es das?

Karlheinz Saage: Die Frage ist, wie sich die nächsten Monate und Jahre entwickeln. Wir sind an einem Punkt, an dem die Pflege selber nicht mehr kann. Wir haben da, wo wir die Brennpunkte hatten, sowohl in der Klinik wie auch in den Pflegeheimen, Mitarbeiter, die kurz vor „Ich kann nicht mehr“ sind. Das spricht sich natürlich auch rum. Das wird die Attraktivität dieser Arbeitsfelder nicht besonders anheben. Die Gesellschaft muss es schaffen - im Moment erlebe ich das leider nicht - mehr als Applaus zu spenden. Sie muss ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass das, was gemacht wird, eine existenziell wichtige Arbeit ist. Und das muss dann auch kommuniziert werden. Das darf nicht damit aufgewogen werden, dass da mal Applaus gespendet wird oder eine Prämie gezahlt wird.

Rita Lorse: Ich glaube, dass das nach außen einfach im Sand versickern wird. Nach innen kann ich sagen, dass sich während der Pandemie unsere Solidarität gezeigt hat, dass wir in der Lage waren, multiprofessionell Schulterschluss herzustellen, Absprachen einzuhalten, uns so aufzustellen, dass wir arbeitsfähig blieben. Das zeigt sich auch jetzt. Wir sehen, dass die Kolleg:innen sich bemühen, die Erfüllung der Aufgaben aufrechtzuerhalten. Das ist ein positiver Effekt. Aber wir erleben auch, dass die Kolleg:innen müde sind.

Frank Müller: Ich befürchte tatsächlich, dass die Pflege durch die Pandemie nochmal Nachteile spüren wird. Einerseits frage ich mich, wenn in Deutschland eine Impfpflicht verkündet wird, inwiefern es überhaupt gerechtfertigt ist, dass man einer Mitarbeitergruppe im Gesundheitswesen eine Impfpflicht verordnet, während alle anderen sagen können, ich halte mich erstmal zurück - das finde ich eine negative Heraushebung, die eben auch die Berufsgruppe der Pflege betrifft. Und wiederum verstärkt sich dieses negative Narrativ. Wer in unserem Bereich kann denn Home Office machen?

Wie wird sich die Pflege weiterentwickeln? Werden wir irgendwann alle von Robotern gepflegt?

Karlheinz Saage: Mit Sicherheit nicht. Aber wir werden Roboter nutzen, um viele Prozesse besser zu gestalten. Ein Beispiel: Medikamentenverblisterung - das wird in zehn Jahren selbstverständlich sein.

Rita Lorse: Genau. Wir werden uns den Segnungen der Digitalisierung, der Technisierung nicht entziehen, ganz im Gegenteil. Wir müssen diese gut nutzen und in unsere Abläufe implementieren. Ich glaube, dass die Pflege in 20 Jahren einen höheren Autonomiegrad erreichen und auch komplexere Aufgabenfelder übernehmen wird.

Frank Müller: Die Berufsgruppen werden sich weiter ausdifferenzieren und die Expertise wird noch stärker nachgefragt werden müssen, weil die Nachfrage in unserer Gesellschaft nach pflegerischen Leistungen explodieren wird. Deswegen müssen wir die Berufsgruppe stärker ausdifferenzieren und dabei wird sie auch immer mehr an Selbstbewusstsein gewinnen. Insofern kann man heute doch jedem empfehlen: Mach eine Ausbildung in der Pflege!

Ich kann es nur jedem empfehlen, weil es ein Beruf ist, der sich weiter entwickeln wird und sein Potenzial bei weitem noch nicht ausgeschöpft hat.

Interview: Wolfang Pape

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