Mehr Zeit für psychische Gesundheit

Mitarbeiter der Rheinhessen-Fachklinik protestieren gegen veraltete Behandlungsverordnung und fordern mehr Personal

Von David Schöne

ALZEY  80 Mitarbeiter stehen vor dem Betriebsrestaurant der Rheinhessen-Fachklinik. Doch sie sind nicht hier, um ihr Mittagessen einzunehmen und sich dabei locker zu unterhalten. Sie hören gespannt den Worten des Pflegedirektors Frank Müller zu. Ihre Mienen: ernst. Die Körpersprache: entschlossen, etwas zu ändern. In diesem Fall in Form eines Protests gegen die Verlängerung der bisherigen Verordnung zur Behandlung psychisch kranker Patienten.

Während der Ansprache von Frank Müller an die Belegschaft der Rheinhessen-Fachklinik (RFK) ist die volle Palette an negativen Gesichtsausdrücken wiederzufinden. Fassungslosigkeit, Entsetzen, Verzweiflung. Ein kleines blaues Buch streckt der Pflegedirektor in die Luft. Es symbolisiert das Grauen, das für alle psychiatrischen Einrichtungen bald Realität werden könnte, wenn sich nicht bald etwas ändert. Die gesetzliche Verordnung ist eine Leitlinie zur Behandlung von psychischen Krankheiten. Eine Verordnung, die über 30 Jahre alt ist – und kürzlich ohne zufriedenstellende Überarbeitung bestätigt wurde (AZ berichtete).

„Wir waren lange geduldig“, sagt Frank Müller. Gespannt habe man auf die neue Verordnung gewartet, da die alte dringend überholt werden müsse, sagt er. Die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses trifft bundesweit auf Unverständnis. „So kann es nicht weiter gehen“, sagt der Pflegedirektor. „Es muss sich ganz schnell etwas ändern.“

Schon länger habe man mehr Stellen für die Behandlung von Patienten mit psychischen Erkrankungen gefordert. Bekommen haben die Einrichtungen das Gegenteil: keine Erhöhung des Personalschlüssels, dafür mehr bürokratische Arbeit. „Dadurch wird uns Arbeitszeit, Patientenkontakt und Personal geraubt“, sagt Frank Müller. Um ein Zeichen zu setzen, protestieren bundesweit psychiatrische Einrichtungen gegen die Verordnung.

Große bunte Schilder halten die Mitarbeiter der RFK in die Höhe. „Mehr Personal für moderne Behandlung“ und „mehr Zeit für psychische Gesundheit“ wird unter anderem darauf gefordert. Nicht nur die Protestierenden sind unmittelbar betroffen. Alle 1250 Mitarbeiter der Klinik haben unter der Verordnung zu leiden. „Viele können nicht am Protest teilnehmen, da sie gerade Schichten haben und Patienten versorgen müssen“, sagt Frank Müller. Dass trotzdem so viele anwesend seien, spreche eine deutliche Sprache. Es sei Fakt, dass man unter den gesetzlichen Vorgaben nicht arbeiten könne, sagt Frank Müller und erntet dafür viel Applaus.

Alle erhoffen sich von den Protesten das Gleiche: Die Politik soll auf das Problem aufmerksam werden und handeln. Das soll nicht nur durch die bundesweiten Proteste geschehen, sondern auch durch eine Petition an den Bundestag. Über 100 Unterschriften hat Frank Müller bis jetzt auf seiner Liste, knapp 10 000 Menschen haben bereits online ihr Kürzel gesetzt – an Heiligabend läuft die Frist ab. „Wir hoffen, dass die Politik die Signale versteht und schnellstmöglich handelt“, sagt Frank Müller. „Denn durch diese Verordnung werden Patienten mit psychischen Krankheiten gegenüber körperlich Erkrankten benachteiligt behandelt.“

Am 19. September wurde die Verordnung bestätigt, bis zum Jahreswechsel haben die Institutionen Zeit, einen neuen Entwurf vorzulegen. „Wir arbeiten in Verbänden an einer Lösung“, sagt Frank Müller. Ob die Politik hellhörig werde, könne er nicht einschätzen. „Es kommt darauf an, wie groß das Zeichen ist, das heute bundesweit gesetzt wurde.“

Julia Heinen-Burkart und Pia Burkhard-Bicking sind Fachbereichsleiterinnen an der RFK und sind somit wie alle anderen Mitarbeiter direkt von der Verordnung betroffen. Entsetzt sei sie gewesen, als sie von der Entscheidung erfahren habe, sagt Julia Heinen-Burkart. „Wir alle wissen ja, was das bedeutet.“ Dass das Personal nicht erhöht wird und der Arbeitsaufwand steigt, trifft auch hier auf Unverständnis. „Es ist bekannt, dass die Zahlen der psychischen Erkrankungen ansteigen“, sagt Pia Burkhard-Bicking.

Allgemeine Zeitung, 13. Dezember 2019

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