Mit 16 Jahren zwangssterilisiert

Die Schicksale vermeintlich oder tatsächlich psychisch Kranker im Nationalsozialismus bewegen die Menschen in Alzey auch heute noch

Von Stefanie Widmann

ALZEY Ein junges Mädchen aus der Umgebung von Alzey, dem mit 16 Jahren die Fruchtbarkeit genommen wird. Ein Mann, der viele Jahre in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Alzey lebt, dann abtransportiert und im Alter von 49 Jahren vergast wird. Es sind die Schicksale einzelner Personen, die der Stadt verbunden waren und die wegen ihrer tatsächlichen oder vermuteten psychischen Erkrankung zu Zeiten des Nationalsozialismus gequält, körperlich beschädigt oder gar umgebracht wurden. Diesen Menschen wird alljährlich in der Kapelle der Rheinhessen Fachklinik Alzey gedacht. Der 27. Januar 1945, der Tag, an dem die Rote Armee die letzten Überlebenden aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und den beiden anderen Konzentrationslager Auschwitz befreite, ist heute nationaler Gedenktag, die Vereinten Nationen erklärten ihn 2005 zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust.

Renate Rosenau, die sich seit Jahren in der Arbeitsgruppe Psychiatrie im Nationalsozialismus in Alzey engagiert, hat einzelne Patientenschicksale ausgewählt, drei davon werden Schülerinnen der Krankenpflegeschule in der RFK-Kapelle vortragen. Ab Ende der 1930er-Jahre hätten die rassenhygienischen Maßnahmen auch das totale Ausmerzen von Patienten, die dem Staat zur Last fielen, zum Ziel gehabt. „Nun entschieden nicht mehr Richter, sondern nur noch ausgewählte Ärzte über Leben und Tod, illegal, aus Überzeugung“, beschreibt Rosenau das, was sich auch mit Patienten aus der Alzeyer Heil- und Pflegeanstalt zutrug. Und sie schildert persönliche Schicksale.

Etwa das von Gretel, dem jüngsten Kind eines Ehepaars aus einem Nachbarort Alzeys. Das Mädchen war zwar fleißig, aber im Gegensatz zu seinen älteren Geschwistern schaffte es die achtjährige Volksschule nur bis zur 7. Klasse. Daraufhin begutachtete das Gesundheitsamt das Mädchen, und der Amtsarzt attestierte ihm, es sei erbkrank, bezeichnete es aufgrund seines schlechten Abschlusszeugnisses der Volksschule und eines Intelligenztests als angeboren schwachsinnig. Das Erbgesundheitsgericht in Worms ordnete daraufhin Gretels Sterilisierung an. „Nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft ist zu erwarten, dass Nachkommen des jetzt 16-jährigen Mädchens an schweren geistigen oder körperlichen Erbschäden leiden werden. Ihre Unfruchtbarmachung ist daher in ihrem eigenen Interesse, im Interesse ihrer Familie und nicht zuletzt Interesse des Volksganzen geboten“, so die Begründung.

Das Erbgesundheitsobergericht in Darmstadt wies die Beschwerde der Eltern ab. In Gretels Heimatort hatte der praktische Arzt Dr. Reinhold Daum starke Gruppen der NSDAP und der SS aufgebaut. Dennoch versuchten noch neun mutige Mitbürger per Petition an das Erbgesundheitsgericht, die Sterilisierung des Mädchens zu verhindern. Sie beschrieben Gretel als eine tüchtige Mitarbeiterin in der Land- und der Hauswirtschaft – vergebens. Gretel begann im Kloster zum Guten Hirten in Mainz eine hauswirtschaftliche Ausbildung, aber das Kloster galt nicht als geschlossene Anstalt und bot in den Augen der Obrigkeit nicht die Gewähr gegen Fortpflanzung. Die 16-Jährige wurde von der Polizei abgeholt, zur Hebammenlehranstalt in Mainz gebracht und dort sterilisiert.

Noch schlimmer erging es Otto, der lange in der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Alzey lebte. Geboren 1892 in Ober-Ingelheim, lebte er mit Frau und Kind in Mainz-Weisenau. Der gelernte Dreher arbeitete als Rheinschiffer und diente im Ersten Weltkrieg als Heizer auf dem Kriegsschiff Prinzregent Luitpold, danach arbeitete er bei der Opel-AG. 1925 wurde er so krank, dass er dauerhaft in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Alzey eingewiesen wurde.

1940 wurde Otto auf dem Meldebogen als arbeitsunfähig eingestuft. Drei ärztliche Gutachter und der Obergutachter der T4-Zentrale stimmten mit einem „Kreuz“ für seinen Tod. Otto wurde am 25. Februar 1941 mit dem ersten Sammeltransport von Alzey abgeholt. Drei Wochen lang lebte er dann, als Durchgangspatient in der Landesheilanstalt Weilmünster – bei Hungerkost und ohne ärztliche und pflegerische Versorgung. Von dort wurde der 49-Jährige am 18. März wieder im Sammeltransport nach Hadamar verschleppt und am selben Tag in der Gaskammer ermordet.

Seine Angehörigen erhielten eine Sterbeurkunde aus Schloß Hartheim bei Linz an der Donau, einer anderen der sechs Tötungsanstalten im Deutschen Reich mit dem Datum 2. April. Todesort, Todestag und Todesursache wurden gefälscht, die Krankenmorde sollten verschleiert werden.

GEDENKEN

Am Montag, 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus’, gibt es ab 10 Uhr eine Gedenkveranstaltung in der Rheinhessen-Fachklinik.

Der ökumenische Gottesdienst in der Kapelle ist öffentlich .

Allgemeine Zeitung, 23. Januar 2020

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