Rheinhessen-Fachklinik Alzey: Gedenken ist Verantwortung

Foto: Marta Thor

Am 27. Januar wird seit 1996 im Bundestag, in Schulen, aber auch vielen Institutionen der Opfer des Holocaust gedacht, um an den Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Sowjetarmee im Jahr 1945 zu erinnern. Auch in der Rheinhessen-Fachklinik (RFK) in Alzey, die ein dunkles Kapitel mit den Ereignissen der NS-Zeit verbindet.

Unter dem Regime der Nationalsozialisten wurden in der damaligen Heil- und Pflegeanstalt (LHPA) 453 Menschen unter dem Deckmantel der „Euthanasie“, dem sogenannten Gnadentod, ermordet. 229 Menschen wurden zwangssterilisiert, andere in Gefangenenlager deportiert. Ein Mahnmal mit ihren Namen vor der Klinik-Kapelle, die vom jüdischen Jugendstil-Architekten Alexander Beer entworfen wurde, erinnert an die früheren Patienten.

Seit Jahren findet vor diesem Mahnmal eine Kranzniederlegung mit vorherigem ökumenischen Gedenkgottesdienst in der Kapelle statt. Durch die geltenden Einschränkungen der Corona-Pandemie wurde die stille Gedenkminute in diesem Jahr nur in einem kleinen Kreis mit auserwählten Gästen abgehalten.

Pflegedirektor Frank Müller forderte in einer kurzen Rede dazu auf, diesen Gedenktag auch als Tag der Verantwortung und des Auftrags zu sehen: „Nie wieder! Es darf nie wieder möglich sein, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens, ihrer Religion, ihrer Überzeugung oder ihrer Art zu leben, diskriminiert, verfolgt deportiert und grausam ermordet werden.“

Beim anschließenden Gedankenaustausch in der Kapelle hob Heiko Sippel, Landrat des Kreises Alzey-Worms, die gelebte Erinnerungskultur der RFK hervor, die sich ihrer Vergangenheit weiterhin stelle und verarbeite. „Wir leben in einer Atmosphäre der Wachsamkeit, die immer wieder aufs Neue verteidigt werden muss.“

Der RFK sei es in 114 Jahren Klinikgeschichte gelungen, die Schatten der Vergangenheit abzuwerfen und sich als gesellschaftlich positiv besetzter Teil der Region zu etablieren, erklärte der Alzeyer Stadtbürgermeister Christoph Burkhard. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des größten Arbeitgebers der Stadt seien heute stolz darauf, einer sinnstiftenden Tätigkeit nachzugehen.

Wie schlimm musste es erst für das Pflegepersonal während der Zeit des Nationalsozialismus gewesen sein, fragte Renate Rosenau in die Runde hinein. Menschen, die mit anderen Voraussetzungen in den Beruf gegangen waren, mussten sich plötzlich mit einer neuen, mit ihrem Gewissen unvereinbaren Doktrin auseinandersetzen.

Rosenau hat 1994 die Arbeitsgruppe Psychiatrie im Nationalsozialismus in Alzey ins Leben gerufen, deren Aufgabe es ist, die Schicksale der Alzeyer Psychiatriepatienten zwischen 1933 und 1945 aufzuklären. Noch heute kämen Kinder, Enkel und Großenkel verstorbener Patienten auf sie zu, um Lücken in der Familiengeschichte zu schließen. „Das Schweigen der Familien sorgte oftmals für vererbte Traumata“, äußerte sich Rosenau besorgt. Die Stigmata der psychischen Erkrankungen säßen noch immer tief.

Manfred Schneider, Vorsitzender des Landesnetzwerks Selbsthilfe Rheinland-Pfalz, berichtete aus Sicht des Betroffenen von den Folgen eines solchen Kriegsschweigens. Sein Vater, ein Alkoholiker, habe in Folge der traumatisierenden Kriegserlebnisse einen selektiven Mutismus entwickelt. Schneider habe dadurch nie gelernt, sich in schwierigen Situationen verbal zu äußern. „Ich war sprach- und hilflos“, sagte Schneider. Ein Zustand, dem gut ausgebildete Pädagogen heute bereits in Schulen durch rechtzeitiges Eingreifen zuvorkommen könnten.

Das Gesundheitssystem habe sich in den vergangenen Jahren zwar enorm verbessert, sagte Alexander Schneider, Kaufmännischer Direktor der RFK, doch es gäbe – auch finanziell – noch viel Luft nach oben in der psychiatrischen Pflege. Prof. Michael Huss, Ärztlicher Direktor der RFK, hat 13 Jahre lang an der Berliner Charité gearbeitet und dort promoviert. Die habe sich mit der Aufarbeitung der Erinnerungskultur deutlich schwerer getan als die RFK in Alzey: „Ich bin dankbar, dass ich an einem Ort, an dem die Erinnerung gepflegt wird, arbeiten darf.“ Marta Thor

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