Schäfchen zählen

Inka Herzbach kümmert sich mit ihren 98 Tieren um das Allmendefeld in Dittelsheim-Heßloch. Für ihr Hobby muss sie auch mal kurzfristig Verabredungen absagen oder um 1 Uhr nachts zur Weide.

Von Lukas Kissel

Es gibt viele, die sich einen Hund oder eine Katze als Haustier halten. Inka Herzbach hat eine Herde Schafe. „Come by!“, ruft sie und hält ihre Hände an den Mund. Hund Base, ein britischer Border Collie, lässt sich das nicht zweimal sagen. Nur einen Augenblick später hat er die Schafherde zur Besitzerin getrieben. „Die mit dem schwarz-gescheckten Kopf“, erklärt Herzbach und zeigt auf die Tiere, „das sind Bentheimer Landschafe, eine stark gefährdete Rasse.“

Auf einer Wiese in Dittelsheim-Heßloch haben Herzbachs Schafe eine neue Heimat gefunden. Mit den Tieren hat sie sich vor vielen Jahren einen Traum erfüllt. Als Kind waren ihr keine Haustiere erlaubt, erzählt sie. Nach dem Studium, das war für sie klar, da wollte sie Tiere haben.

Herzbach kommt eigentlich aus Ingelheim, hat aber lange auf der Schwäbischen Alb gelebt, wo Schafherden zum Landschaftsbild gehören. Nach ihrem Soziologie-Studium arbeitete die heute 38-Jährige bei einem Photovoltaik-Unternehmen. Die Arbeit am Schreibtisch lag ihr jedoch nicht. „Ich brauchte einen Ausgleich zu dem qualmenden Kopf und den vielen Anrufen“, sagt sie. Den fand sie bei den Tieren. Als sie sich die ersten Schafe zulegte, war sie Ende 20. Eine richtige Schäferausbildung machte Herzbach nie, ihr Handwerk lernte sie in Kursen: von der Klauenpflege und der Geburtshilfe, über Parasitologie bis zum Schlachten.

Mittlerweile ist Herzbach wieder zurück in ihre alte Heimat gezogen, nach Ingelheim. Sie arbeitet als Arbeitstherapeutin in der Rheinhessen-Fachklinik in Alzey. Also brauchten auch ihre Schafe eine neue Heimat. Über die Kreisverwaltung fragte sie an, ob es geeignete Flächen in der Region gäbe. „Es war ein Glücksfall“, sagt Elisabeth Kolb-Noack, Ortsbürgermeisterin in Dittelsheim-Heßloch. Dort hatte man nur auf jemanden wie Inka Herzbach gewartet. Jemanden, der geeignet war, um das Allmendefeld der Ortsgemeinde zu bewirtschaften.

Vom Weinkastell aus fährt man nur ein paar Minuten ins Feld hinaus, die Weide liegt auf einem Hang oberhalb der Ortschaft. Bei schönem Wetter wie an diesem Tag kann man vom Taunus bis zum Odenwald sehen, im bläulichen Dunst der Ferne erkennt man sogar die Hochhäuser Frankfurts. Von hier oben sehen die vielen Windräder ganz klein aus. Wenn neue Windkraftanlagen gebaut werden, ist das ein Eingriff in die Natur, den die Betreiber mit Kompensationsgeldern ausgleichen müssen. So auch, als vor einigen Jahren neue Anlagen in Dittelsheim-Heßloch gebaut wurden. „Mit dem Geld war es möglich, sich hier um diese Brachfläche zu kümmern“, erklärt Albert Delp, Vorsitzender des Bauern- und Winzerverbandes.

Und das war immer drängender. Langsam, aber sicher holte sich die Natur die Fläche zurück. Nicht mal zehn Jahre hätte es noch gedauert, da wäre hier ein Wald entstanden, sagt Landschaftsplaner Franz-Otto Brauner – für die angrenzenden Weinberge wäre das zum Problem geworden, weil der Wald Schatten geworfen und dem Boden die Nährstoffe entzogen hätte. Der Experte Brauner wurde eingeschaltet, um ein Konzept für die Fläche zu erstellen. Das Problem: An den meisten Stellen ist das Gebiet nicht flach genug, um es einfach roden zu können. Auch aus diesem Grund schlug er vor, die Fläche zu beweiden.

Was Maschinen hier nicht leisten können, können Schafe viel besser. Sie fressen das Gras, die Kräuter und die Blätter der Büsche – und lassen stehen, was ihnen nicht schmeckt. Das ist der Unterschied zur Rodungsmaschine, die die Landschaft einfach platt macht. Deshalb sei es umweltverträglicher, das Gebiet auf diese Weise zu pflegen, erklärt der Experte. „Hier“, sagt Brauner und bückt sich, „das ist eine Knollen-Kratzdistel. Sie steht auf der Roten Liste.“ Diese Art brauche die offene Weide, sagt der Experte, unter Gehölz wäre sie auch hier verschwunden.

Zuerst kümmerte sich eine Schäferin aus dem Ort um die Weide, bis sie aus privaten Gründen wegzog. Bis eine Nachfolgerin gefunden war, dauerte es zwei Jahre. Schäfer findet man nicht so leicht – als Hauptberufler sind sie so stark gefährdet wie die Tiere, die sie betreuen. Im Jahr 2016 gab es deutschlandweit 989 Betriebe, die ihren Haupterwerb mit der Schäferei verdienten. 2010 waren es noch 1136 Betriebe gewesen.

Der Rückgang hat vor allem zwei Gründe, sagt Günther Czerkus, der Vorsitzende des Bundesverbands der Berufsschäfer. Einerseits mache die „völlig überbordende Bürokratie“ vielen Schäfern das Leben schwer. Andererseits kämen viele auch finanziell immer schwerer über die Runden: Bei 6,68 Euro liegt der durchschnittliche Stundenlohn, sagen Zahlen für Baden-Württemberg. „Dafür arbeitet man dann 365 Tage im Jahr, in einem Job, in dem Krankmachen, ein Wochenende oder Urlaub kaum möglich ist“, sagt Czerkus. „Und wer selbst nur für zwei Drittel des Mindestlohns arbeitet, der kann sich auch keine Aushilfe leisten.“

Die Konsequenz: Wertvolle Flächen und damit die Artenvielfalt gehen verloren, wenn sie nicht mehr von der Schäferei bewirtschaftet werden. „Wenn die Schäfer auf der Lüneburger Heide nicht mehr existieren können und die Weiden dort verwalden, dann bricht die Heide schlichtweg zusammen“, sagt Czerkus.

Hauptberufliche Schäferin? Von ihren 98 Tieren könnte Inka Herzbach nicht leben, und sowieso käme das für sie nicht infrage. Sie sei „Hobby-Schäferin“, sagt sie. Das macht die Schäferei für sie allerdings nicht weniger hart. „Es ist ein Hobby, das man nicht einfach in den Schrank stellen kann“, sagt sie. Ob bei Schnee oder Regen, ob am Wochenende oder an Weihnachten: Die Schafe brauchen Betreuung. Mindestens einmal am Tag sei sie hier, um nach dem Rechten zu sehen. In der Lammzeit im Frühjahr reicht das aber nicht: Da steht sie auch morgens um 5 Uhr am Feld, in der Mittagspause wieder oder wenn es sein muss auch nachts um eins. Von manchen käme ihr da Unverständnis entgegen: „Wenn ich verabredet bin und kurzfristig wegen der Schafe absagen muss, dann sagen manche schon: ‚Kannst du das nicht noch morgen machen?‘ Aber wenn es hier einen Notfall gibt, dann muss ich hier sein“, sagt Herzbach.

Doch der Stress und der Schlafmangel werden belohnt. Auf dem Rückweg des Feldrundgangs kommt Inka Herzbach wieder zu den Tieren zurück, sie haben sich unter die Bäume in den Schatten gelegt. „Für diesen Anblick mache ich das“, sagt sie und gerät ins Schwärmen, „für mich geht von diesen Tieren eine unglaubliche Ruhe aus.“

Allgemeine Zeitung, 12. Oktober 2019

zurück