Verstehen, warum Opa schreit

RFK will mit neuer Methode Ursachen für Verhaltensweisen Demenzkranker ergründen

Von Stefanie Widmann

ALZEYWarum schreit der demente Großvater den ganzen Tag? Warum rennt die alte Frau, die unter Alzeheimer leidet, einfach davon? Viele Familien wollen das beste für ihre alten Familienmitglieder, aber sie sind schlichtweg überfordert, denn eine Verständigung über solche Fragen ist meist nicht möglich. Das Ergebnis: Irgendwann wird das demente Familienmitglied in die Rheinhessen-Fachklinik (RFK) gebracht, in der Hoffnung, dass es ruhiger zurückkehrt. Das aber ist auch für die RFK leichter gesagt als getan. Nun will Pflegedirektor Frank Müller neue Wege gehen. Seit Mai arbeitet Henni Rached als Pflegeexpertin in der RFK und testet eine neue Methode zur Unterstützung der Behandlung dementer Senioren aus.

„Eigentlich gibt es in der Psychiatrie nur zwei Wege zu helfen: Mit Psychotherapieverfahren oder mit Psychopharmaka“, sagt Müller. Bei Demenzkranken fällt der erste Weg weitgehend aus. Und so werden die Patienten in der Regel mit Tabletten behandelt, die sie schlicht mehr oder minder ruhigstellen. „Das ist keine gute Lösung“, sind Müller und Henni Rached sich einig. Henni Rached soll nun eine neue Methode einführen, die in den angelsächsischen Ländern bereits praktiziert wird, in Deutschland jedoch noch kaum bekannt ist. „Verstehende Diagnostik“ heißt sie und hat zum Ziel, herauszufinden, warum der demente Patient beispielsweise aggressiv ist, warum er tagsüber schläft und nachts munter ist, warum er dazu tendiert, wegzulaufen oder anderes mehr.

Die Serial-Trial-Intervention-Methode (STI) – so der englische Ausdruck – zielt darauf ab, die Ursachen des Verhaltens zu finden. Hat der Mensch beispielsweise Schmerzen und schreit deshalb? Das könnte sich klären, indem man schaut, ob sich sein Verhalten unter Schmerztabletten ändert. Manche Reaktionen können auch durch Stress auf der einen oder zu wenig Zuwendung auf der anderen Seite hervorgerufen sein. Hier will die Pflegeexpertin versuchen, auf die häusliche Umgebung einwirken, damit die Auslöser der Reaktionen möglichst abgestellt werden.

„Am häufigsten liegt allerdings ein Delir vor, also eine akute geistige Verwirrung, da würden wir ein anderes Verfahren anwenden“, sagt Müller. Trotzdem hofft er, dass die „verstehende Diagnostik“ auch im Alzeyer Raum dazu führt, dass Demenzkranke mit weniger Medikamenten auszukommen. „Das würde nicht nur die Betroffenen entlasten, sondern auch die Familie und Umgebung entstressen“, sagt Müller. Demenz-Patienten werden oft eingewiesen, weil die Gemeinschaft, in der sie leben, nicht mehr weiß, wie sie mit ihnen umgehen soll. „Wir erleben allerdings auch, dass zu Hause aggressive Patienten hier völlig friedlich und freundlich sind“, sagt Müller.

Advanced nursing practice – zu Deutsch fortgeschrittene Pflegepraxis – heißt ein Studiengang, der auch für die verstehende Diagnostik die Voraussetzungen schafft. Die Deutsche Henni Rached, die mit 16 noch zur Firmung ging und mit 17 zum Islam übertrat, hat ihren Master-Abschluss an der Fachhochschule in Frankfurt gemacht. „Für uns ist sie die perfekte Mitarbeiterin, um die verstehende Diagnostik in der RFK auszuprobieren und einzuführen“, sagt Müller. Gerade für ein Unternehmen, das die „Charta der Vielfalt“ unterschrieben habe, sei sie eine Bereicherung. „Ich mag klare Strukturen und die kann mir der Islam bieten“, begründet die Deutsche ihren Wechsel, zu dem sie sich auch kleidungsmäßig bekennt. „Gerade Demenzkranke sehen schnell den Menschen und nicht die Kleidung“, berichtet sie. Viele hielten sie schlicht für eine Nonne.

Gefördert vom Land Rheinland-Pfalz

Henni Rached hat sich inzwischen in der Klinik mit den vorhandenen Organisationen vertraut gemacht und sich vernetzt, um an bestehende Strukturen anknüpfen zu können. Eine Veränderung der Milieugestaltung, in der die Patienten leben, aber auch eine Ansprechstelle für Angehörige will die Pflegeexpertin in einem ersten Schritt einführen. Auch will sie versuchen, auf Stationen der RFK zusätzliche Gruppenangebote, etwa in Ergo- und Physiotherapie anzubieten. Inwieweit es gelingt, geeignete Ehrenamtliche für die dementen Senioren zu gewinnen, scheint offen. „Das ist sehr schwierig“, sagt Müller aus Erfahrung.

Für das Projekt hatte Müller beim Land bereits im März einen Förderantrag gestellt, der nun im Juli bewilligt wurde, „wofür wir sehr dankbar sind“. Zwei Jahre lang erhält die RFK einen Zuschuss von bis zu knapp 65 000 Euro, um die Verstehende Diagnostik in der Gerontopsychiatrie einzuführen. Dabei soll ein Team verschiedenen Fachrichtungen helfen, den Zustand der Patienten individuell und ohne Medikamente zu verbessern.

Allgemeine Zeitung, 20. August 2019

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