Mainzer Sehambulanz über Region hinaus gefragt

Behandlung von zerebraler Wahrnehmungsstörung

Mainz. Es gibt nur wenige Stellen in Deutschland, die sich mit zerebraler Wahrnehmungsstörung beschäftigen, weiß Prof. Dr. Fred Zepp, bis 1. Juni Interims-Chefarzt der Kinderneurologie und Sozialpädiatrie der Rheinhessen-Fachklinik Mainz (RFK). Seit 1. Juni ist Dr. Frank Kowalzik neuer Chefarzt der Abteilung. Wegen des beschränkten Angebots ist die Bedeutung der Sozialpädiatrischen Sehambulanz (SOPSA) der Klinik, die Anfragen hat, die weit über die Region hinausreichen, natürlich sehr hoch.

Das Team der SOPSA, bestehend aus zwei Ärzt:innen, zwei Psycholog:innen und zwei Therapeut:innen, ist auf die Diagnostik visueller Wahrnehmungsstörungen (Cerebral Visual Impairment / CVI) spezialisiert. 2019 startete die SOPSA als Ambulanz, die an zwei Tagen im Monat betroffene Kinder untersucht - seither wurden bereits rund 500 Kinder behandelt.

Das überregionale Interesse an der Arbeit der SOPSA beweist eine „inhaltlich qualitative Verbesserung für ein Problem, dass man vorher nicht so wahrgenommen hat“, sagt Prof. Zepp. Und es zeigt, wie wichtig es ist, ein Problem zu verstehen. Denn: Nicht zu verstehen, heißt, nicht richtig helfen zu können.

Sehen kann Aufmerksamkeit, Emotion, Gedächtnis und Motivation beeinflussen
60 Prozent des Gehirns beschäftigt sich mit visueller Wahrnehmung, erläutert Dr. Roger Weis, Arzt der SOPSA. Visuelle Wahrnehmung beinhaltet alles, was das Gehirn mit den durch die Augen weitergeleiteten Informationen macht. Im Gehirn entstehen die Bilder, werden die wichtigen Informationen registriert und abgespeichert (= gelernt). Im Schläfenlappen erfolgt die Analyse in eigenen Arealen für Farbe, Formen, Figuren, Objekte, Gesichter und Bedeutungsgebung (ventraler Pfad im Okzipital- und Temporallappen des Gehirns). Der Scheitellappen verarbeitet räumliche Beziehungen im Außenraum und zur eigenen Person und ermöglicht somit die Auge-Hand- und die Auge-Fuß-Koordination die räumliche Orientierung und die Bewegungswahrnehmung (dorsaler Pfad im Okzipital- und Parietallappen des Gehirns).

Diese komplizierten Prozesse werden von vielen anderen, ebenfalls im Zentralnervensystem lokalisierten Prozessen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Emotion und Motivation beeinflusst. Umgekehrt kann auch Sehen und Wahrnehmung die Aufmerksamkeit, die Emotion, das Gedächtnis und die Motivation beeinflussen. Visuelle Wahrnehmungsverarbeitung ist also ein neuronaler Prozess.

Schädigung des Gehirns Ursache für CVI
Kinder, die an CVI leiden, sind zum Beispiel auffällig, wenn sie auf dem Pausenhof nicht zu ihren Freunden gehen (sie finden sie schlicht nicht). Sie haben Schwierigkeiten, Eltern bei Feiern wiederzufinden, haben eine schlechte Orientierung, erkennen Freunde auf Bildern nicht oder zeigen wenig Interesse an Ballspielen oder schnellen Bildfolgen, fallen damit auch durch motorische Störungen auf. Schüler:innen mit zerebral bedingten Sehstörungen fallen oft durch Unkonzentriertheit, Unaufmerksamkeit oder Leistungsverweigerung auf.

Die Ursachen einer CVI liegen in Schädigungen des Gehirns - zum Beispiel Sauerstoffmangel, Geburtskomplikationen, Frühgeburten - und in genetisch bedingten Entwicklungsstörungen des Gehirns.

Spezialisten-Team zur Diagnose nötig
Um eine CVI überhaupt diagnostizieren zu können, braucht es Spezialisten wie bei der SOPSA der RFK Mainz. Dort kümmern sich Neuropädiater, Psychologen, Orthoptisten und Ergotherapeuten um die jungen Patient:innen. So kann eine ganzheitliche Beurteilung der Sehbehinderung sichergestellt werden. Darüber hinaus besteht eine enge Zusammenarbeit mit Augenärzten, Blindenschulen und Frühförderstellen für sehbehinderte Kinder, aber auch mit niedergelassenen Therapeuten, Kindergärten, Schulen und Kinderärzten.

Alter bei Therapie wichtig
Ist ein Kind jünger als drei Jahre, ist die Diagnostik besonders dringlich. Denn: Je jünger die Kinder sind, desto besser lässt sich eine visuelle Wahrnehmungsstörung therapieren, um die frühkindliche Entwicklung nicht zu beeinträchtigen. Daher ist die SOPSA hierbei bemüht, besonders schnelle Vorstellungstermine zu vereinbaren.

Bei Kindern ab drei Jahren sind visuelle Wahrnehmungsprozesse deutlich komplexer. Es wurde ein mehrstufiges Vorgehen etabliert: Screening auf visuelle Wahrnehmungsverarbeitungsstörung, ausführliche neurologische und neuropsychologische Diagnostik, Therapie und Gestaltung des Umfelds.

Nach erfolgreicher Therapie, so Dr. Weis, sind die Patient:innen sicherer, treten selbstbewusster auf, haben mehr Sozialkontakte. Dadurch sind sie zufriedener und ruhiger. Das kann dann auch beispielsweise auf die schulische Entwicklung positive Auswirkungen haben.

„Kinderneurologischer Nachmittag“ - Vortrag von Prof. Josef Zihl
Wie gut vernetzt und bundesweit anerkannt ist, zeigte ein Fachnachmittag, den die SOPSA veranstaltete: Die Klinik konnte Prof. Josef Zihl von der LMU München zu einem Vortrag in Mainz empfangen. Der an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrende Neuropsychologe widmete sich in seiner Arbeit unter anderem der Neuropsychologie der visuellen Wahrnehmung. Dazu verfasste er zwei grundlegende Bücher über visuelle Wahrnehmungsverarbeitungsstörung. Prof. Dr. Zihl gilt als einer der führenden Wissenschaftler in seinem Bereich. „Wir sind stolz, dass wir einen so hochkarätigen Referenten gewinnen konnten“, sagte der Ärztliche Direktor Prof. Dr. Michael Huss in seiner Begrüßung. Prof. Dr. Fred Zepp nannte die Entscheidung zur Gründung der SOPSA vor wenigen Jahren „von Weitsicht gekennzeichnet“.

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