Sozialpädiatrische Sehambulanz (SOPSA)
Sehen lernen - mit dem Gehirn
Viele Menschen glauben, dass gutes Sehen nur von den Augen abhängt. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Sehen ist ein äußerst komplexer Vorgang: Die Augen nehmen Licht, Farben und Formen auf – aber erst das Gehirn macht daraus ein verständliches Bild der Welt.
Wenn diese Verarbeitung gestört ist, obwohl die Augen selbst gesund sind, spricht man von einer zerebralen visuellen Wahrnehmungsverarbeitungsstörung (CVI – Cerebral Visual Impairment).
CVI ist keine Augenerkrankung, sondern eine neurologisch bedingte Sehbeeinträchtigung. Das Gehirn kann die Informationen, die über die Augen eintreffen, nicht richtig interpretieren – mit weitreichenden Folgen für den Alltag der betroffenen Kinder.
Wie äußert sich CVI im Alltag?
Sehen ist subjektiv, auch wenn es objektiv erscheint. Ein Kind kann zum Beispiel in einem ruhigen, gut beleuchteten Raum einen Gegenstand erkennen – aber denselben Gegenstand in einer unübersichtlichen oder reizüberfluteten Umgebung nicht wahrnehmen. Manche Kinder erkennen Gesichter nicht gut, obwohl sie Blickkontakt halten. Andere haben Mühe, sich im Raum zu orientieren, können schwer zwischen Vorder- und Hintergrund unterscheiden oder übersehen Objekte, die sich bewegen oder in Gruppen auftreten.
Dadurch wirken sie manchmal unkonzentriert, ungeschickt oder lernschwach – dabei liegt die Ursache in einer gestörten Verarbeitung visueller Informationen im Gehirn.
Typische Auffälligkeiten bei CVI - Betroffene Bereiche
- Einschätzung des Raumes (Treppen, Wege, Distanzen)
- Wahrnehmung von Objekten, Gesichtern oder Mimik
- Finden oder Unterscheiden von Gegenständen und Buchstaben
- Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben oder Rechnen
- Probleme bei der Einschätzung von Geschwindigkeit (z. B. im Straßenverkehr)
- Unsicherheit bei Ballspielen oder schnellen Bildfolgen
Wann ist eine Vorstellung in der Sozialpädiatrischen Sehambulanz sinnvoll?
- Frühgeburt
- Hirnverletzungen (z.B. Schädelhirntrauma, Tumore, Hydrocephalus)
- Zerebralparese
- Spina bifida
- Epilepsie
- Genetische Auffälligkeiten (z.B. Trisomie 21, Fragiles X Syndrom)
- Entwicklungsstörungen
- Verhaltensauffälligkeiten (z.B. AD(H)S, Autismus)
- Schulleistungsprobleme (z.B. Lese-Rechtschreibstörung, Rechenstörung)
- Augenerkrankungen (z.B. Amblyopie, Schielen)
- häufiges Stolpern über Gegenstände
- häufiges Stoßen an Ecken und Kanten
- häufige Treppenstürze
- wenig Interesse an Ballspielen oder schnellen Bildfolgen
- wenig Interesse an Bilderbüchern
- schlechte Orientierung (Kinder finden Wege nicht mehr zurück und verlaufen sich oft)
- verminderte Reaktion auf die Mimik anderer
- Schwierigkeiten beim Abschreiben von der Tafel oder beim Rechnen
- Schwierigkeiten etwas wiederzufinden
- Schwierigkeiten bei dem Erkennen von Bekannten/ Freunden auf Bildern
Diagnostik visueller Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen
Das Team der Sozialpädiatrischen Sehambulanz (SoPSA) ist auf die Diagnostik der visuellen Wahrnehmungsverarbeitungsstörung (CVI) spezialisiert.
Visuelle Wahrnehmung umfasst alles, was das Gehirn mit den Informationen der Augen macht. Diese Prozesse hängen eng mit Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Emotion und Motivation zusammen – und beeinflussen sich gegenseitig.
Diese komplizierten Wechselwirkungen zu entwirren braucht Zeit und die Zusammenarbeit verschiedener Spezialisten, die in der Sozialpädiatrischen Sehambulanz vertreten sind. Hier kümmern sich Neuropädiater, Psychologen, Orthoptisten und Ergotherapeuten um ihr Anliegen und um die Diagnostik der visuellen Wahrnehmung ihres Kindes. Außerdem arbeiten wir eng mit Augenärzten, Blindenschulen und Frühförderstellen für sehbehinderte Kinder, aber auch mit niedergelassenen Therapeuten, Kindergärten, Schulen und Kinderärzten zusammen.
Alle Untersuchungen sind schmerzfrei und auf eine geringe Belastung für Ihr Kind ausgelegt. Der Ablauf richtet sich nach dem Alter des Kindes.
Ablauf Diagnostik
Ist ihr Kind jünger als drei Jahre, ist die Diagnostik besonders dringlich. Je jünger die Kinder sind, desto besser lässt sich eine visuelle Wahrnehmungsstörung therapieren, um die weitere frühkindliche Entwicklung nicht zu beeinträchtigen. Deswegen erhalten kleine Kinder besonders schnell einen Vorstellungstermin und werden umfassend orthoptisch und neurologisch untersucht und diagnostiziert, um möglichst rasch therapeutische Maßnahmen einzuleiten.
Die Diagnostik findet an einem Tag statt und kann bis zu 2 Stunden dauern.
Bei Kindern ab drei Jahren sind die visuellen Wahrnehmungsprozesse deutlich komplexer. Um uns intensiv und sorgfältig um ihr Anliegen und die Diagnostik kümmern zu können, haben wir ein mehrstufiges Vorgehen etabliert.
- Phase: Screening und neurologische Untersuchung auf visuelle Wahrnehmung Verarbeitung Störung (CVI)
Zunächst schaut sich ein Orthoptist die Augen ihres Kindes an und untersucht sie. Danach führt ein Ergotherapeut den Screeningtest „Provikit“ der TU Darmstadt durch. Zusätzlich werden verschiedene Test aus der Testbatterie durchgeführt wie der Frostig Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung (FEW-2), der L-POST, der CVI 3-6 oder der Test of Visual Perceptual Skills (TVPS-4). Im Anschluss wird noch mithilfe des Eye-Tracking die Latenz der Refixierung, die Geschwindigkeiten bei ganzen Fixationen und glatte Folgebewegungen überprüft. Des Weiteren wird ihr Kind noch umfangreich neurologisch untersucht.
Dies findet alles an einem Tag statt. Planen Sie für die Diagnostik einen Zeitraum von mindestens 3 - 4 Stunden ein. Bringen Sie bitte ausreichend Getränke und Verpflegung mit.
Spätestens zwischen Phase 1 und Phase 2 sollte eine Vorstellung bei einem Augenarzt erfolgen, falls dies noch nicht erfolgt ist.
- Phase: Ausführliche neuropsychologische Diagnostik
Sollte sich der Verdacht auf eine visuelle Wahrnehmungsverarbeitungsstörung im Screening erhärten, benötigt ihr Kind eine ausführliche neuropsychologische und neurologische Untersuchung, um das Ausmaß und die Lokalisation der Störung festzustellen.
In dieser Phase werden sie von unseren Psychologen ausführlich betreut. Gleichzeitig erfolgt eine Bestimmung der idealen Umfeldbedingungen für ihr Kind, um ihnen, aber auch Erziehern und Lehrern Hinweise zu geben, wie die visuelle Wahrnehmung des Kindes am besten unterstützt werden kann.
Diese Phase findet an einem weiteren Tag statt, für den Sie einen neuen Termin mitgeteilt bekommen. Die Diagnostik an diesem Tag umfasst mindestens 2 Stunden.
- Phase: Therapie und Gestaltung des Umfeldes
Die Förderung des funktionellen Sehens geschieht in Zusammenarbeit mit den Seh-Frühförderstellen und den Landesschulen für blinde und sehbehinderte Kinder sowie Kindergarten und Schule. In dieser Phase sollen auch spezifische Therapien bei entsprechenden Therapeuten durchgeführt werden. Diese finden nicht vor Ort in der Rheinhessen-Fachklinik Mainz statt.
Hilfen für Ihr Kind
- Übungen für das Kind, damit es lernt, besser wahrzunehmen. Da das Problem der visuellen Wahrnehmung in den Strukturen und Funktionen des Gehirns liegt und die Fähigkeiten des Gehirns geübt werden können (wie Klavierspielen), lässt sich auch die visuelle Wahrnehmung üben. Die Übungen zur besseren Wahrnehmung sollten zu Hause erfolgen und durch eine Seh-Frühförderung oder durch eine Ergotherapie begleitet werden.
- Anpassung der visuellen Umwelt an die Bedürfnisse ihres Kindes. Dies betrifft vor allen Dingen die Verbesserung der Lichtverhältnisse, des Kontrasts und der Vergrößerung. Außerdem sollte es ihrem Kind gestattet werden, spezielle Hilfsmittel zu benutzen. Diese Veränderungen des Umfeldes müssen mit ihrem Kindergarten oder ihrer Schule abgesprochen werden, betreffen aber auch die häusliche Umgebung. Hilfe bei der Beratung der Umweltbedingungen erhalten Sie von Seh-Frühförderstellen, oder Seh-Pädagogen der zuständigen Blindenschule.
- Zusätzlich wird der Beginn einer visuellen Therapie mit der App „dob pro“ oder dem Therapieprogramm "Klabauter" empfohlen.
Diagnostische Schwerpunkte
In der Orthoptik der SoPSA geht es um die Analyse der organischen und physikalischen Bedingungen des Auges und des ersten Abschnitts der Sehbahn.
Während der ergotherapeutischen Untersuchung in der SoPSA werden verschiedene Untersuchungen mithilfe einer Testbatterie bestehend aus dem Seh-Screenings mit dem PROVIKIT® Lea® Testverfahren, dem Frostig Entwicklungstests der visuellen Wahrnehmung (FEW), dem Test of Visual Perceptual Skills (TVPS-4), dem L-Post, dem CVIT 3-6 sowie dem Eye-Tracking durchgeführt. Diese geben Aufschluss darüber welche Bereiche der visuellen Wahrnehmung beeinträchtigt sind.
Mit einem neuropsychologischen Testverfahren, dem NEPSY II, untersuchen wir unterschiedliche Funktionsbereiche des Gehirns. Neben den visuell-räumlichen Fähigkeiten untersuchen wir auch die Aufmerksamkeit und Konzentration, die Sprache und das Gedächtnis. Auf diese Weise können wir herausfinden, wo die Stärken und Schwächen des Kindes liegen. So können wir besser einordnen, ob es neben den Problemen in der visuell-räumlichen Verarbeitung noch andere Auffälligkeiten gibt, ob es sich um ein übergeordnetes Verarbeitungsproblem handelt, oder die visuelle Verarbeitung im Speziellen betroffen ist.
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