Klinik Viktoriastift: Hier purzeln die Pfunde

Im Landeskrankenhaus werden Kinder und Jugendliche von Experten auf vielfältige Weise beim Abnehmen unterstützt

Von unserer Redakteurin Silke Bauer

BAD KREUZNACH Dieses Mal ist Paul motiviert. So motiviert, dass er beim Hüpfen auf dem Trampolin fast gegen die Decke der Turnhalle knallt. „Pass auf deinen Kopf auf“, ruft Sportlehrer Markus Drees, der an diesem Nachmittag die Aufsicht in der Sporthalle der Klinik Viktoriastift in Bad Kreuznach führt. Um ihn herum herrscht Gewusel: Ein Mädchen klettert eine Hängeleiter hoch, ein anderes balanciert auf einem Pedalo. Und Paul springt eben Trampolin.

Der 16-Jährige ist für eine sechswöchige Reha von Karlsruhe nach Bad Kreuznach gereist. Er leidet an Adipositas, ist also krankhaft übergewichtig. Als Zwölfjähriger war er schon einmal in der Klinik – seine Mutter hatte ihn dazu gedrängt. Auch damals hatte er abgenommen, konnte das neue Gewicht im Alltag aber nicht halten. Dieses Mal ist er fest entschlossen, es besser zu machen.

„Ich bin mit 115 Kilo hierhergekommen“, erzählt er. Seit einer Woche ist er erst im Viktoriastift und hat bereits 2,7 Kilo verloren. Wenn die sechs Wochen vorbei sind, möchte er gern weniger als 100 Kilo wiegen. Dabei soll ihm ein ausgeklügeltes Trainingsprogramm helfen, das sich aus Alltagsbewegung, Sport, Ernährungsschulungen und psychologischen Gesprächen zusammensetzt.

Angefangen habe die Sache mit dem Übergewicht vor zehn Jahren, erinnert er sich. „Damals haben sich meine Eltern getrennt.“ Auch in der Schule habe es Stress gegeben, Paul wechselte die Klasse. Und: „Ich esse einfach gern.“ Bei sich zu Hause ist der Junge für die Mahlzeiten selbst zuständig, seine Mutter ist meistens nicht da, weil sie arbeiten muss. Häufig gibt es abends, wenn er aus der Schule kommt, einfach nur Brot, in der zehnminütigen Mittagspause holt er sich oft einen Döner. Das soll sich in Zukunft ändern, Paul ist gespannt auf den Kochkurs, der ihn am Viktoriastift noch erwartet.

„Vielen Jugendlichen fehlt es an Struktur“, weiß Ernährungsfachkraft Tosca Kraft. „Sie frühstücken nichts, nehmen kein Essen mit in die Schule, bekommen nachmittags Heißhunger und essen ohne Sinn und Verstand irgendetwas. Oft fehlt auch die Zeit zum Kochen, und man greift zu Fertigprodukten.“ In der Reha lernten viele Kinder – und auch die Eltern – erstmals die verschiedenen Obst- und Gemüsesorten kennen.

Die zwölfjährige Hannah Binger und ihr Vater Peter aus Gescher in Nordrhein-Westfalen haben sich bereits mit den Themen Kochen und Ernährung beschäftigt. Das Mädchen ist seit vier Wochen in der Reha und hat schon vier Kilo abgenommen. Das hat sie so motiviert, dass sie an die obligatorischen sechs Wochen noch zwei weitere dranhängen wird – ohne ihren Vater.

Dieser besucht in der Klinik ebenfalls Kurse, etwa das Einkaufstraining, das zu einer Art Erleuchtung geführt hat. „Es wurde bildlich dargestellt, wie viel Zucker zum Beispiel in einem Glas Rotkohl steckt. Ich dachte, es wären vielleicht fünf Stück Zucker. Dass es 25 sind, hätte ich nicht gedacht.“ Künftig will Peter Binger, der alleinerziehend ist, beim Einkauf vermehrt auf solche versteckten Kalorien achten. „Ich nehme eine ganze Menge von hier mit“, freut er sich. Da er tagsüber arbeitet, isst Hannah in der Schule oder das, was ihre Tagesmutter kocht. Diese soll auch mit ins Boot geholt werden, „das Ganze soll ja nachhaltig sein, wir wollen die neuen Strukturen beibehalten“, sagt er.

Auch seine Tochter hat Vorsätze gefasst. In der Reha hat sie Spaß am Bogenschießen gefunden. Wenn sie zurück in der Heimat ist, möchte sie einem Verein beitreten. Mit den anderen Kindern in der Reha hat sie sich angefreundet, und auch die Gespräche mit den Psychologen helfen ihr, mehr Selbstbewusstsein aufzubauen. Denn: „Es gibt in der Schule schon mal dumme Sprüche“, weiß Vater Peter Binger. „Das bleibt hängen.“

Derzeit sind alle 26 Appartements belegt, bis Ende des Jahres sei man ausgebucht, erzählt Beate Kentner-Figura, die ärztliche Direktorin der Klinik Viktoriastift. Momentan wird umgebaut, danach wolle man sogar die Anzahl der Appartements verdoppeln: „Die Nachfrage ist enorm.“

Enorm ist auch die Motivation des 16-jährigen Paul. Vor einem Jahr sei er unter die Boxer gegangen, erzählt er. In seiner Gewichtsklasse habe er jedoch keine Chance, die Gegner seien allesamt größer als er und hätten mehr Erfahrung. „Wenn ich abnehme, kann ich die Gewichtsklasse wechseln und kriege nicht immer nur aufs Maul“, sagt er. Und kommt seinem Ziel mit jedem Sprung auf dem Trampolin ein wenig näher.

Oeffentlicher Anzeiger Bad Kreuznach, 11. Oktober 2019

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