Wenn selbst die Schaukel Angst macht

Im Viktoriastift helfen Experten übergewichtigen Kindern und Jugendlichen, ihr Leben zum Positiven zu verändern

BAD KREUZNACH Süße Getränke, fettiges Essen, zu wenig Bewegung: Ein solcher Lebensstil führt nicht selten zu Adipositas, dem krankhaften Übergewicht. Wie die Deutsche Adipositas Gesellschaft am gestrigen Freitag anlässlich des Weltadipositastags mitteilte, werden auch in Deutschland in den kommenden Jahren immer mehr Kinder von dieser Krankheit betroffen sein: 2030 soll es mehr als 1,3 Millionen adipöse Kinder und Jugendliche zwischen 5 und 19 Jahren in Deutschland geben, das sind rund 500 000 mehr als heute. In der Klinik Viktoriastift in Bad Kreuznach hilft man jungen Menschen im Kampf gegen die Krankheit. Der „Oeffentliche“ hat mit der ärztlichen Direktorin Beate Kentner-Figura über diese Arbeit gesprochen.

Wie viele Patienten werden im Viktoriastift behandelt?

Momentan verfügen wir über 18 Appartements für Kinder, die jeweils von einem Elternteil begleitet werden, und über acht Appartements für allein reisende Patienten. Wir bauen aber momentan um. Nach der Umbauphase wollen wir verdoppeln, die Anfrage ist enorm. Wir sind bis Ende des Jahres ausgebucht.

Wie lange dauert eine solche Reha?

Vier bis sechs Wochen.

Was ist das Ziel der Reha?

Zunächst einmal: Wir sind keine Abnehmklinik. Unser Ziel ist es, Alternativen zum bisherigen Leben aufzuzeigen und den Kindern zu signalisieren, dass sie in der Gruppe zusammen ganz viel bewältigen können. Wir haben nicht nur den Körper, sondern auch die Seele im Blick. Pädagogik und Verhaltenstherapie sind ganz wichtig. Wir wollen, dass die Kinder wieder Freude an der Alltagsbewegung haben und vermitteln ihnen: Fahrt nicht immer Bus, fahrt mit dem Fahrrad, lauft die Wege, geht aus dem Zimmer raus, sucht euch eine Sportart, die euch gefällt, zu euch passt und euch Spaß macht. Fangt an, wieder etwas zu tun, auch wenn man vielleicht schwitzt oder außer Atem kommt.Versucht, etwas mit Freunden zu unternehmen, nicht nur allein, nicht nur am PC. Wir wissen nämlich mittlerweile, dass die Lebensqualität von Kindern, die Adipositas haben, eine der schlechtesten ist, die es überhaupt im Kinder- und Jugendbereich gibt. Wir wollen die Gewohnheiten der Kinder und Jugendlichen nachhaltig ändern und sie dazu bewegen, bewusst einzukaufen, selbst zu kochen, sich mehr zu bewegen, soziale Kompetenzen aufzubauen. Da sind die Kinder gefragt, aber auch die Eltern.

Was sind die Gründe für Adipositas?

Adipositas ist in der Regel eine multifaktorielle Erkrankung. Genetik, Gewohnheiten spielen eine Rolle, aber auch Akuterkrankungen wie ein komplizierter Knochenbruch, die dazu führen, dass sich das Kind nicht mehr so viel bewegen kann. Wenn das Kind dann seine Essgewohnheiten nicht verändert, kann das zu Adipositas führen. Und da sind auch die familiären Faktoren, insbesondere dieses Überbeschützende. Wir lassen die Kinder ja nicht mehr den Weg in die Schule laufen – sie werden gefahren. Viele Eltern trauen es ihren Kindern nicht mal zu, auf einen Baum zu klettern. Die Sorge, da könnte was passieren, die ist enorm. In unserer Sporthalle sehen wir immer wieder, dass sich manche Kinder gar nicht auf die Schaukel trauen, weil sie das nicht kennen.

Adipositas bedeutet ja mehr als einfach nur zu dick zu sein. Welche gesundheitlichen und sozialen Folgen hat die Krankheit?

Es gibt Kinder, die so übergewichtig sind, dass sie Diabetes Typ zwei, Bluthochdruck oder Erkrankungen der Hormonsysteme entwickeln. Und wenn die Kinder ausgeschlossen werden, verlieren sie Freundschaften, ziehen sich weiter zurück, greifen zu Spielkonsolen, die Stimmung geht runter. Dann muss man schauen, ob die Kinder schon depressiv sind.

Welche Rolle spielt dabei unsere Gesellschaft?

Eine ganz große. Im Supermarkt gibt es ein Überangebot, man macht sich keine Gedanken, wie viel Zucker, wie viel Fett, in Lebensmitteln stecken. Und im Alltag wird aufgrund des schnellen Lebensrhythmus immer weniger vermittelt, dass man viele Sachen auch selbst machen kann – oder dass man Spaß an Hobbys haben kann.

Geben Ihnen ehemalige Patienten auch ein Feedback?

Ein Teil der Patienten kommt ein zweites Mal zur Reha, weil sie sich beim letzten Mal sehr gut entwickelt haben und jetzt neue Ziele verfolgen. Wir haben auch Eltern, die mehrmals herkommen, zum Beispiel mit den Geschwisterkindern. Manchmal kommen Patienten auch nach 20, 30 Jahren wieder, weil sie hier Freundschaften fürs Leben geschlossen haben. Wir haben auch Patienten, die jetzt Mitarbeiter sind.

Wie könnte eine Prävention aussehen, damit es erst gar nicht zu einer Adipositas kommt?

Es wäre schön, wenn es auf den Produkten eine Lebensmittelampel geben und wenn man an den Schulen gesundes Essen anbieten würde. An ganz vielen Schulkiosken gibt es nur Chips und Schokoriegel. Es gibt andererseits schon einige Projekte. Doch trotzdem gibt es sozial schwache Familien, die keinen Zugang zur Rehabilitation bekommen, weil sie es nicht schaffen, einen Rehabilitationsantrag auszufüllen oder niemanden haben, der sich zu Hause um die Geschwisterkinder kümmert.

Die Fragen stellte Silke Bauer

Oeffentlicher Anzeiger Bad Kreuznach, 12. Oktober 2019

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